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Anschläge in Paris: Wie ich mit meinen Kindern über den Terror spreche

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Was tun, wenn der Terror an die Tür klopft? Die Terroranschläge in Paris sind schon für mich als Erwachsene unfassbar. Noch schlimmer wird es, wenn meine Vierjährige die Zeitung in der Hand hat, auf das Titelbild zeigt und fragt: „Mama, was machen die da?“

Ich versuche das tunlichst zu vermeiden. Bei uns läuft nie unkontrolliert das Radio mit Nachrichten, geschweige denn ein Fernseher. Aber wir haben eine Zeitung. Wenn es also passiert, dass meine Kinder „schlimme“ Bilder sehen, lüge ich. Meistens. Und das aus gutem Grund.

Wenn meine Kinder Bilder von Tragödien oder Attentaten sehen und fragen, suche ich den Mittelweg zwischen Wahrheit und Schonung: „Da hat jemand geschossen. Das passiert ganz selten und die Polizei kümmert sich bereits darum, dass es nicht wieder passiert. Es war ein Mensch, dem es sehr schlecht ging.“ „Ist jemand gestorben?“ will sie dann oft wissen. Und wenn man dem Bild nichts anderes entnehmen kann, lüge ich gnadenlos: „Nein, mein Schatz, er hat nicht getroffen.“

Warum tue ich das?

Auf meiner Reise durch die USA bekam ich eine Ausgabe des Mothering Magazine in die Hand mit einem Artikel: „How to nurture a nature lover“ – wie man kleine Naturliebhaber bestärkt. Die Autorin sprach sich nach Erfahrungen in New York dafür aus, Kinder auf keinen Fall mit Roten Listen und aussterbenden Tieren zu bombardieren, weil sie dadurch viel zu früh ein Gefühl von Machtlosigkeit und „es ist sowieso zu spät“ bekämen. Lieber sollten wir den Kindern eine Verbindung, eine Liebe zur Natur ermöglichen, damit sie sich dann später, wenn sie groß genug dafür sind, für sie einsetzen können. Mir leuchtete es ein – ich konfrontiere ja auch keine Vierjährige mit den Schwierigkeiten meiner Ehe.

Dieser Ansatz wurde jetzt bestärkt durch Tamara Brennan, PHD und Psychologin, und ihren Artikel „Talking to our Children about World Tragedies“ .

Sie schreibt:
– Erlebnisse in der der frühen Kindheit bestimmen, wie sich das Nervensystem der Kinder entwickelt
– hier bildet sich die Grundstimmung („Baseline mood“) für den Rest ihres Lebens
– Mit einem Gefühl der Sicherheit aufzuwachsen, hilft Kindern, eine bessere Grundstimmung zu entwickeln
– So können sie ihr Leben besser gestalten
– Sie werden stärker, selbstwirksamer, mutiger

Sie sagt, 7-Jährige haben ähnliche Gehirnströme wie Menschen, die jahrelang meditieren – in der Rückschau ein Gefühl der „Unschuld“. Sie argumentiert, dass wir die Kinder besser nicht mit Schreckensnachrichten aus diesem Land der Seligen reißen bevor ihr Gehirn ausgereift ist. Denn mit dem „in Ruhe“ ausgereiften Gehirn können sie die Probleme, die wir ihnen hinterlassen, viel besser lösen.

Eine Kindheit in einem Gefühl der Sicherheit heißt nicht, die Kinder in Unwissenheit zu lassen. Mein 7-Jähriger Sohn weiß mehr über das Ökosystem direkt vor unserer Tür, hinter unserem Haus und in unserem Wald als die meisten Erwachsenen, die ich kenne. Wenn dieses Ökosystem Probleme bekommt, wird er vorbereitet sein.
Er weiß viel über Kommunikation und Konfliktlösung, über Integration und Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen – einfach weil wir viele Freunde überall auf der Welt, Muslime und Christen, Buddhisten und Esoteriker um uns herum haben und wir oft darüber reden, dass jeder etwas anderes glauben darf.

Mein Kind ist informiert. Aber ich werde ihm nicht von den Anschlägen in Paris erzählen. Nicht mehr als: Da hat jemand die Kontrolle verloren, aber die Erwachsenen regeln das. Genauso wie ich beim Einsturz des Daches sagen würde: Keine Angst, mein Kind, das Dach ist kaputt, aber ich regele das.

Auf diese Weise hat er alle Werkzeuge, die er braucht. Aber er wird nicht seine Kindheit damit verbracht haben, von hungernden Kindern, sich aufheizenden Planeten und schießenden Terroristen Angst zu haben. Angst entsteht, wenn wir nichts gegen eine Gefahr tun können. Also ermächtige ich ihn erst, stärke ihn, etwas zu tun, bevor ich ihn mit Problemen konfrontiere.

Damit aus Angst Aktion und Selbstwirksamkeit entstehen können. Es ist noch viel zu tun.

/edit:
Danke für eure vielen Sichtweisen! Um es nochmal klarer zu machen, wegen der vielen Kommentare: Ich schirme die Kinder nicht komplett von der Welt ab. Aber ich gebe ihnen auch nicht die ganze Wahrheit in all ihrer beängstigenden Brutalität. Wenn sie nicht fragen – dann sage ich nichts. Wenn sie fragen, sage ich ihnen, dass etwas passier ist, aber so, dass sie sich nicht ängstigen müssen: „Es passiert, nein, es war nicht so schlimm wie man denken könnte, und ja, wir Erwachsenen regeln das.“ Das ist auch irgendwie „lügen“, aber aus meiner Sicht ist es eine notwendige und sinnvolle Abschirmung. Ich würde meinen Kindern auch nicht die Details unserer … z.B. Familien-Finanzen ausbreiten, weil es einfach zu komplex für sie ist.

Fremdbetreuung aus evolutionsbiologischer Sicht

Herbert Renz-Polster hat sich in dem Interview „Die neue Kinderarmut: Ist unsere Gesellschaft in Gefahr?“ von SpielundZukunft.de zur artgerechten Betreuung kleiner Kinder geäußert:

[…] Für die Betreuung ihrer Kinder stützten sich Mütter schon immer auf ein Netz von Helfern. Fest steht: Fremdbetreuung ist nicht etwa gegen die menschliche Natur. Denn rund um den Globus entwickeln Babys ihr Urvertrauen, auch wenn sie nicht ausschließlich von einer, sondern von mehreren Bezugspersonen versorgt werden. Viel interessanter ist aus evolutionärer Sicht eine andere Frage, nämlich die nach der Qualität der Betreuung. Denn im ursprünglichen Lebenskontext der Menschen wurden kleine Kinder immer schon von vertrauten, in das soziale System der Eltern eingebundenen Menschen betreut. Das ergab sich ja schon aus der kleinen Gruppengröße von Jäger- und Sammlergemeinschaften. Man kannte sich, war in ein gemeinsames Netz eingebunden. Die „Fremdbetreuung“ fand in einem räumlich und personell vertrauten Umfeld statt. […]

Seine Lösung für unsere heutige Zeit sieht wie folgt aus:

Kleine Kinder brauchen erstens möglichst verlässliche und stabile Verhältnisse und feste Bezugspersonen. […] Zweitens führte Fremdbetreuung im evolutionären Modell das kleine Kind nicht in eine fremde Welt. Vielmehr kümmerten sich vertraute Personen an einem vertrauten Ort um das Kind. Das lässt sich auch heute schaffen – allerdings nur mit einer langen Eingewöhnungsphase, während der die neuen Bezüge wachsen können. Im Gegensatz zu den Forderungen mancher Bildungspolitiker brauchen Krippen drittens auch kein Personal, das an Universitäten ausgebildet wurde. Viel wichtiger sind erfahrene, kompetente, liebevolle und möglichst verlässlich verfügbare Betreuungspersonen. Viertens sieht das evolutionäre Betreuungsarrangement vor, dass Mütter ihr Kind bei der Arbeit möglichst weitgehend und flexibel bei sich haben können. Das ist das Ur-Modell der Babybetreuung. […]
Last but not least: Die Mutter entscheidet – nicht  irgendwelche Krippen-Skeptiker (die ja meist Männer sind und denen ihr Beruf über alles geht). Es gibt Kinder, die von ihrem Naturell her nicht so gut in einer Krippe zurechtkommen und vielleicht bei einer Tagesmutter besser aufgehoben sind. Und umgekehrt sind manche Kinder in einer gut geführten Krippe besser dran. Eltern wissen am besten, was ihrem Kind und auch ihnen selber gut tut. Wichtig ist auch, dass die Mutter selbst hinter ihrer Entscheidung steht. Denn nur zufriedene Mütter haben zufriedene Kinder.

Lies auch hier:
Fremdbetreuung: Jedes Kind ist anders
Jesper Juul und KiTa

Fremdbetreuung: Jedes Kind ist anders

Bei SpringerMedizin ist ein schönes Interview-Video mit Prof. Klaus Hurrelmann erschienen:

Von Fremdbetreuung, Rabenmüttern und Kita-Qualität

… Es gibt Kinder, die brauchen die kleine Gruppe. Es gibt Kinder, die brauchen die gemischte Gruppe. Es gibt Kinder, die brauchen die gleichgeschlechtliche Gruppe. Es gibt sehr vulnerable, sehr empfindliche Kinder, die gehören in einen anderen Kontext. …

Was Prof. Hurrelmann ebenfalls erwähnt, dass ein Kind eine sichere Bindung zu einer festen Bezugsperson braucht. Somit ist eine gute Basis für eine eventuelle frühe Fremdbetreuung gegeben. Doch sollte man individuell auf jedes Kind schauen, was ihm gut tut, und ebenso genauer auf die Qualität der Tagesbetreuung achten.

Parallel will ich noch auf ein junges Interview mit Herbert Renz-Polster hinweisen: „Kinder brauchen konstante Bindungen“ – … was die Kleinsten schon immer brauchten – und was daraus für die Betreuung abzuleiten ist.

Sie lernen alleine laufen…

Die Bundesarbeitsgemeinschaft „Mehr Sicherheit für Kinder e.V.“ (BAG) warnt vor Lauflernhilfen jeglicher Art, denn sie sind gefährlicher als ihr nicht erwiesener Nutzen: Keine gute Idee: „Babywalker“ als Weihnachtsgeschenk

No go - Lauflernhilfen

„Eltern und Großeltern, die glauben, sie tun ihrem Nachwuchs etwas Gutes, wenn sie ihnen derartige Geräte schenken, täuschen sich“, betont Dr. Jörg Schriever vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, „jedes Kind lernt laufen. Dazu benötigt es seine ganz persönliche, individuelle motorische Entwicklungszeit. Der Glaube, die Bewegungsentwicklung durch die fälschlicherweise so genannten Lauflernhilfen zu fördern oder zu beschleunigen, ist ein Irrtum. Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür, dass Lauflernschulen Vorteile bieten. Im Gegenteil, der „Gehfrei“ ist das gefährlichste Verwahrgerät im Säuglingsalter“.

Wegen der großen Unfallgefahr ist der Verkauf der Lauflernhilfen sogar in Kanada seit 2004 verboten.

Zu diesem Thema habe ich noch zusätzlich ein Gespräch aus der Klinik während des Praktischen Jahres im Kopf: Am OP-Tisch bei einer Knie-Operation erzählte mir der Oberarzt der Unfallchirurgie, dass man die immer häufiger zu sehenden Kniebeschwerden durch Kniescheibenfehlbildungen (Patelladysplasie) wahrscheinlich den Lauflernhilfen sowie zu frühes Gehen an der Hand, wobei das Kind noch nicht alleine laufen kann, zu verdanken hat. Denn die Muskelatur ist dann einfach noch nicht soweit, ausglichen an allen weichen Knöchlein zu ziehen. Und auf die Kniescheibe wirken im Stehen relativ hohe Kräfte, die zur unnatürlichen Verformung führen. Diese Problematik findet man wohl eher in unseren Breiten. In ursprünglicheren Völkern findet man sie eher nicht. – Ich hatte damals versucht nach entsprechenden Literaturquellen zu suchen, wurde aber leider nicht fündig.

… also: unsere Kinder lernen zu ihrer Zeit alleine laufen.

Abstillzeit ist kulturell bedingt

Mal kurz und knapp:

News.de hat einen schönen Artikel online gestellt: Langzeitstillen – Keine Sperrstunde für Mamas Brust

Die Stillzeit in Deutschland ist sehr kurz. Besonders wenn man über den Tellerrand in andere Kulturen und in die Menschheitsgeschichte blickt.

Ich wünsche allen schon mal ein schönes langes Wochenende und für die, die arbeiten müssen, eine halbwegs stressfreie Zeit.

Zerrt nicht an den Kinderärmchen!

Chassaignac, das ist kein Wein eines guten Jahrgangs! Sondern das Symptom einer der häufigsten Verletzung im Kleinkindalter – der Radiusköpfchen-Subluxation, benannt nach dem französischen Chirurgen Charles Marie Édouard Chassaignac.

Was ist das? Wie passiert es?

Das Köpfchen der Speiche (Unterarmknochen der auf der Daumenseite zum Ellenbogen entlang geht) rutscht aus seinem Halte(-/Ring)band, welches ihn normalerweise in seiner Position an der Speiche nahe des Ellenbogens fixiert hält.
Das passiert, wenn im Kleinkindalter, wo das Band noch sehr flexibel und elastisch ist, das Kind plötzlich an der Hand/Unterarm hochgezogen wird.

Situationen:

  • Flieger spielen – Papa greift Kind bei den Händen und dreht sich schnell im Kreis, so dass das jauchzende Kind dank Fliehkraft in die Waagrechte abhebt. (Laut unserer Rettungsstelle die Top 1 der Auslöser!)
  • Das gerade Laufen lernende Kind stolpert an der Hand der Mama und Mama zieht schnell am Ärmchen, damit das Kleine nicht hinfällt.
  • „Bockiges“, sich wehrendes Kind wird vom Boden hochgezogen. (Deshalb heißt diese Verletzung auch im Volksmund „Kindermädchen-Ellenbogen“)
  • Kind wird an den Händen aus dem Bettchen gehoben.

Was passiert dann:

Kind weint oder sagt auch mal gar nichts und hält den betroffenen Arm wie gelähmt (Chassaignac-Lähmung). Mag es nicht bewegen. Der Arm ist nicht ganz gestreckt, aber auch nicht komplett gebeugt.

Was ist zu tun:

Ab in die Rettungsstelle. [Keine oder späte Behandlung kann zu Folgeschäden/-problemen führen – Kinder können sich auch an diesen Zustand gewöhnen und den verletzten Arm wieder voll einsetzen.]

Bei genauer Beschreibung des Auslösers brauchen die Ärzte kein Röntgenbild, abgesehen davon, dass es nicht röntgenologisch sichtbar ist. Ruhige geübte (Kinder-)Chirurgen/Ärzte können mit dem Chassaignac-Handgriff die Kinder schnell erlösen und das Speichenköpfchen wieder an Ort und Stelle bringen (=reponieren). Die Kinder sind dann sofort schmerzfrei und spielen so, als wäre nichts gewesen, was sie auch dürfen.

Warum passiert es nicht bei älteren Kindern?

Das Ringband wird mit dem Alter immer fester und kräftiger. Ab dem späten Vorschulalter findet man keine Kinder wegen dieser Verletzung in der Rettungsstelle.

Warum schreibe ich das?

Unsere kleine Maus hatte das schon viermal –  immer das linke Ärmchen. *seufz*

Einmal mit ungefähr mit zwei Jahren. Ich hatte sie von unserem Bett an den Händchen hochgezogen und irgendwie lief sie danach „komisch“ mit ihrem Arm herum und plötzlich fiel mir wieder eine Klausurfrage in Chirurgie ein. Ungeübt habe ich es mit einem Versuch wieder reponiert bekommen. (bitte als medizinische Laien NICHT nachahmen!!!)
Und im vergangenem Sommer zweimal (da war sie 3 Jahre alt). Fliegerspielen mit Papa (riesen Geschrei und es schien super schmerzhaft) und einmal ließ sich Töchterchen spaßeshalber Hängen als ihre Oma sie sitzend vom Boden hochziehen wollte (Schrei nach Mama!). Und das letzte mal um den ersten Advent herum – sie war müde und quengelig und ich nicht in der Stimmung auf sie einzugehen. Sie hängte sich an mich und einen Moment später jammerte sie, ich hätte an ihrem Arm gezogen. Keine Ahnung, wie es genau passierte.  Jedenfalls waren wir insgesamt zweimal damit in der Rettungsstelle, weil ich es nicht auf Anhieb reinbekommen habe. (Irgenwo setze ich mir als Mama und angehende Ärztin doch Grenzen. ) Aber schön, dass unsere Kleine jetzt Rettungsstelle immer mit Belohnung assoziert – Schmerz weg plus Gummibärchentütchen oder Buntstifte vom Arzt.

… und warum noch? Weil ich immer wieder Mamas und Papas sehe, die ihre kleinen weinenden und schreienden Kinder grob hinter sich her zerren, was mir persönlich schon beim Zusehen total weh tut.

Bitte seid achtsam!

Und wenn es nicht anders geht, nehmt Eure Kleinen lieber hoch auf den Arm. Fasst sie zum Fliegerspielen, Aus-dem-Bettchen-heben und so weiter unter den Achseln.