Indische Kindheit – meistens dachte ich an zwei Dinge: Armut und Windelfrei. Das eine ergibt sicher oft das andere. Aber je laenger ich hier bin, desto mehr habe ich das Gefuehl, dass da noch etwas ist. Jenseits der schockierenden Bilder, die wir alle kennen.
Von aussen betrachtet, sind natuerlich viele Kinder nach unseren Massstaeben vernachlaessigt und das kann einen gar nicht kaltlassen. 80% der Inder leben von weniger als 2 $ am Tag, das hinterlaesst ueberall seine Spuren.
Ich sehe sie, die Kleinkinder, die unbeachtet und an den lautesten Strassen auf den Baustellen spielen, waehrend ihre Eltern Koerbe mit Baumaterialen auf dem Kopf hin und her tragen. Ich sehe sie, die bettelnden kleinen Haende am Connaught-Platz in Delhi. Ich schaudere beim Anblick der auf Tueten auf dem Boden schlafenden Kinder, gesehen auf einem Markt auf der Insel Diu. Keine Frage.
Aber ich sehe auch noch etwas anderes und moechte es nicht unter den Tisch fallen lassen (auf die Gefahr hin, hier ordentlich ausgeschimpft zu werden).
Ich sehe Kinder auf dem Arm, an der Hand, im Tuch. Ich sehe Kinder mit Kindern, Kinder, die spielen, rennen, lachen, an ihren Geschwistern haengen. Ich sehe Kinder, die arbeiten, die aber ein Laecheln im Gesicht haben. Ich sehe keine weinenden Saeuglinge in Kinderwaegen. Ich sehe keine teilnahmslosen Mamas. Ich sehe keine gestressten Muetter, die ihre „bockigen“ Kleinkinder auf offener Strasse anschreien.
Ein Aspekt davon ist sicher, dass indische Kinder mehr auf Gehorsam oder Gruppenkompatibilitaet getrimmt sind als unsere, und zwar von klein auf. Das sieht man immer wieder, wenn man Schulklassen in Museen oder im Zoo sieht. Aber auch indische Kinder sind mal unleidlich. Auch indische Saeuglinge weinen. Und daher ueberlege ich: vielleicht ist der Umgang irgendwie noch mehr als anders als bei uns.
Wenn unser Sohn z. B. auf der Strasse weint, weil er muede ist oder weil er sich weh getan hat, dann schauen sofort alle. Und ich meine zu bemerken, dass die Blicke erwartungsvoll sind. Und dass sie erschrocken bis entsetzt sind, wenn wir nicht innerhalb von Sekunden reagieren (weil ich erst das Glas wegstellen muss, weil Papa gerade die Rikscha bezahlt…). Sie schauen. Und sie sind immer kurz davor, unser Kind fuer uns zu troesten. Als ich einmal zu weit weg war, um sofort als Mama-von-weinendem-Kind identifiziert zu werden, hat ihn auch schon mal jemand zu troesten versucht.
Die Kinder werden hier einerseits viel mehr in Ruhe gelassen, sie sind viel mehr auf sich gestellt und das ist bestimmt nicht immer gut. Gleichzeitig werden sie soweit ich das bisher sehe sofort auf den Arm genommen, wenn sie weinen, sie sind nie alleine mit einem gestressten Elternteil, die Grossen sind haeufig in Gruppen mit ihren Freunden.
Ich will das erstmal nur feststellen und nicht bewerten. Es ist einfach anders. Und auch hier sieht man natuerlich Eltern, bei denen man eher das Wort „vernachlaessigend“ im Kopf hat als andere.
Man sieht eben alle Arten von Eltern auch hier und vielleicht hier noch viel offener, weil sich das Leben vor allem in laendlichen Gegenden noch viel mehr auf der Strasse abspielt. Aber ich hab so das Gefuehl, dass die Haltung Kindern gegenueber grundsaetzlich positiv ist. Sie duerfen laut sein, spielen, weinen, sie werden nicht angeschrien. Das kenne ich von zu Hause auch anders…