Mich rief letzte Woche eine Freundin auf dem Mobiltelefon an. Ich war gerade genervt. Sie hörte es und fragte nach dem Grund. Ich sagte ehrlich „ich halte gerade das vierte Mal mit dem Auto an, weil er weint, es ist einfach zu heiß für ihn, aber ich würde halt auch gerne mal am Ziel ankommen“. Wir hatten für eine 50 Minuten-Strecke zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwei Stunden gebraucht.
Auf diese Steilvorlage hin bekam ich, was ich verdient hatte: „Den würde ich mal schreien lassen…einfach mal durchziehen…du ziehst einen kleinen Tyrannen groß…bei unseren Katzen haben wir das auch mal so gemacht…“
Ich war völlig vor den Kopf gestoßen. Ich sollte meinen 6 Monate alten Säugling bei 34 Grad im Schatten in einem Auto ohne Klimaanlage eine Stunde lang in der heißen Babyschale schwitzen und herzzerreißend weinen lassen, nur weil ich endlich irgendwo ankommen will? So kannte ich sie gar nicht! Wie konnte sie so etwas auch nur denken? Mir war, als müsste ich gleichzeitig losweinen und schreien, hilflos stammelnd beendete ich kurz darauf das Gespräch.
Und dann dachte ich nach. Und dann fing ich an zu suchen.
Sie ist ja nicht die Einzige, ich kenne es selbst und höre es allerorten: Alle wissen es besser, Tante, Schwiegermutter, Oma, Mama, Nachbarn – und man selbst sowieso!! Aber wie kann das sein – hier Tragetuch und Windelfrei, dort Ferbern und Bloß-nicht-mit-Brust-Einschlafen-lassen? Wie kann die Welt so unterschiedlich sein?
Wahrscheinlich kennt jede Mutter die zwei Seiten des Besserwissens: Einerseits bekommt man ständig von allen zu hören, wie man es richtig zu machen hat. Sätze wie „Du ziehst ja jetzt schon einen kleinen Tyrannen groß“ oder „So lernt der nie XYZ“ oder „Also jetzt musst du aber langsam mal XYZ“ haben wir alle schon gehört und je nach Temperament mit hitzigen Diskussionen oder schweigendem Ohrenschließen reagiert. Andererseits sieht man andere Mütter und denkt sich „ich würde das jetzt so und so machen“ – in dem sicheren Gefühl, dass das richtig, richtiger oder am richtigsten wäre.
Man fragt sich, was da in den Köpfen los ist. Die Antwort ist einfach: Gar nichts. Es ist völlig normal.
Bei meinen Recherchen stieß ich auf das Buch von M. Small Our Babies, Ourselves. Und seit der Lektüre der ersten Seiten sind mir zwei Lichter aufgegangen:
1. „Besserwisserei“ ist völlig normal
2. es gibt eine sanfte Strategie, um allen „das macht man aber so und so“-Kommentaren einen freundlichen Spiegel vorzuhalten und so meist auch ein Ende zu setzen
M. Small zeigt in ihrem Buch, dass jede Kultur, ja sogar jede Generation ihre eigene Vorstellung von „richtig“ hat – und jede hat damit irgendwie recht. Denn jede Gruppe zieht ihre Kinder so auf, wie sie es für ihre Gesellschaft als richtig und notwendig erachtet. Früher waren das überlebenswichtige Entscheidungen. Heute ist es eine Frage der Kultur oder des politischen Klimas.
Ein einfaches Beispiel: Die !Kung San der Kalahari sind darauf angewiesen, dass ihre Kinder physisch fit für ein Jäger-und-Sammler-Leben sind. Daher legen sie höchsten Wert auf frühes Krabbeln und üben das mit ihren Kindern. Die Ache in Paraguay hingegen leben in gefährlichen Waldgebieten und sind an früh fortkrabbelnden Kinder gar nicht interessiert – daher wird der Bewegungsdrang eher unterdrückt und selbstständiges Krabbeln und Laufen möglichst hinausgezögert.
Gleiches gilt natürlich für die Frage, welche Art soziales Wesen wir großziehen wollen. Durchhaltefähige, gehorsame Arbeiter? Emotional ungebundene Soldaten? Bindungsfähige, kommunikationsfähige Demokraten? Konkurrenz- und kapitalismusfähige Einzelkämpfer?
Diese Frage stellt sich kaum jemand bewusst, mit dem ich bisher gesprochen habe, aber sie stellt sich ständig. Mit jeder Entscheidung, die wir in unserer „Erziehung“ treffen, stellt sie sich, beantworten wir sie. Meist jedoch unbewusst.
Umso überraschter sind Gesprächspartner, wenn sie auf die Aussage „Ich würde den einfach mal schreien lassen“ eine freundliche Antwort erhalten wie „das entspricht nicht meinen Erziehungszielen“ oder weniger geschwollen „naja, kommt drauf an, was für einen Menschen mal großziehen möchte“ oder polemischer „ich auch, aber Soldaten brauche wir ja keine mehr, oder?“.
Gut funktioniert bei mir auch vor allem bei der „Durchhalten-Lernen“ und „das ist gut für die Lunge“-Fraktion die Aussage: „Ja, das hat man früher so gemacht, aber heute brauchen die Kinder andere Qualitäten“. Das hat den tollen Vorteil, dass man sich nicht auf was-ist-richtig-Diskussionen einlässt, denn was kann der andere schon sagen, wenn man freundlich erklärt, dass man eben andere Ziele hat. Und wenn plötzlich diese Relativität in die Sache kommt, denkt es sich auch leichter – auf beiden Seiten.
Was meine Freundin und ihren Durchalte-Ratschlag angeht, auch das verstehe ich jetzt besser: Es muss in ihrer Kultur liegen. In einer persönlichen Ethik des Durchhaltens, des Zähne-Zusammenbeißens. Und für ihr Kind wären 34 Grad und 1 Stunde „Aushalten-Lernen“ das kulturimmanente Training. Ich hingegen bin überhaupt kein Zähne-Zusammenbeißer, mein Job – schreiben – erfordert es, Emotionen und Bedürfnissen nachzugehen, sie nicht zu unterdrücken, ihnen zu folgen.
Und daher hab ich eben vier Mal angehalten – und dabei übrigens zu meiner Entzückung einen wunderschönen Rosengarten entdeckt, an dem wir sonst vorbeigefahren wären.
Das hast du schön geschrieben. Ich stelle auch immer fest, wie sehr wir Menschen im Kopf von unserer Kultur geprägt sind. Ein Kind auf den Rücken zu schwingen ruft bei Schweden vom Zugucken Schweißausbrüche hervor. Irgendwo in Tansania machen das schon die größeren Kinder selber – einen Kinderwagen haben sie vermutlich noch nie gesehen.