Ein Tabu ist laut Wahrig eine „allgemeine Vorschrift, über etwas nicht zu sprechen oder etwas nicht zu tun“. Bevor ich Mutter wurde, bin ich so gut wie nie mit Tabus in Berührung gekommen – eigenartig. Jetzt häufen sich Momente, in denen ich denke: „Ups – ein Tabu!“
Meine aktuelle Favoritenliste:
1. Über die Ausscheidungen von Kindern spricht man nicht.
Naja – über die Windelinhalte schon, das sind ja legendäre Elterngespräche. Aber man spricht nicht darüber, dass es ekelhaft ist, volle Windeln zu wechseln. Sobald ich das anderen Eltern gegenüber erwähne, wird betreten geschwiegen oder das Thema gewechselt oder entsetzt geguckt ;).
2. Übers Abhalten von Babies spricht man nicht.
Es passiert ganz selten, dass mal jemand Genaueres darüber wissen möchte, über die Hintergründe, die Idee, die Praxis. Erst jetzt, da alle anderen merken, dass unser Kind bereits ohne Windeln herumläuft und ich nie die Krabbelgruppe oder den Spielplatz verlassen muss, um eine vollge*** Windeln zu wechseln, rutscht mal die eine oder andere Frage heraus. Alle finden es zwar irgendwie spannend oder sogar klasse, dass das Kind keine Windeln trägt, aber wie es dazu gekommen ist, das kann nicht normal sein, darüber spricht man nicht. Nur Eltern mit deutlich älteren Kindern sind offen begeistert – meist, weil sie langwierige Sauberkeitskämpfe mit ihren Kindern hinter sich haben.
3. Über Schmerzen eines Kindes spricht man nicht.
Jeder weiß zwar, dass es weh tut, sich an der Marmorplatte einer Kommode den Kopf zu stoßen, aber wehe, du sagst das deinem Kind! Wenn ein Kind sich stößt, spricht man nicht darüber, dass das weh getan haben könnte. Man sagt „Ist doch nicht so schlimm“ oder „Macht ja nichts“ oder „Ist schon vorbei“. Mir scheint, die sonst heraufbeschwörte Gefahr ist es, ein „Weichei“ heranzuziehen, der aus jedem Kopf-Anstoßen „ein Theater“ macht. Oft frage ich mich, wann die Erwachsenen, die sich so verhalten, sich selbst zuletzt den Kopf gestoßen haben. Mir passiert das heute beim Rumtoben immer noch manchmal und verdammt ja, das tut weh.
4. Über langes Stillen spricht man nicht.
Unser Kind ist noch keine zwei Jahre alt, aber „schon“ weht uns der Wind ins Gesicht. Stillen ist 6 Monate lang okay. Danach wird es schon ein „ach, immer noch?“, manchmal verwundert, manchmal anerkennend. Jetzt kommen wir langsam in die Phase des „WAS?! Immer noch?“.
In der Kita erklärt man uns, ein gestilltes Kind könne man nicht eingewöhnen (was Quatsch ist, wir haben wunderbar eingewöhnte Stillkinder um uns herum). Die Babysitterin (eine tolle, offene, ehemalige Kinderkrankenschwester) fragt besorgt „und…ich meine… wie lange willst Du noch weiter…?“. Sie spricht das Wort gar nicht aus, als könnte sie damit einen Geist beschwören. Sogar unsere Homöopathin schaut besorgt. Als ich heute einen Freund informierte, „die WHO empfiehlt zwei Jahre„, erklärte mir der studierte Vater von zwei Kindern prompt: „Was schert mich die WHO!“.
Und er hat Recht – das gesellschaftliche Tabu ist so stark, dass etwas so Abstraktes wie die WHO, die Empfehlungen der Kinderärzte (alle impfen gegen Schweingrippe – Stillen hilft zusätzlich) oder Stillverbände (LLL, AFS) dagegen nicht ankommen.
Man stillt einfach nicht so „lange“. Und wenn man es tut, dann spricht man nicht darüber. Denn das tun viele meiner Mitstillerinnen, sie verleugnen oder verheimlichen es. Heute habe ich mir überlegt, ob das nicht wirklich die stressfreiere Strategie ist, statt ständig mit Leuten zu diskutieren, die gesellschaftliches Ohropax in den Ohren haben.
5. Über die Schädlichkeit von Schnullern spricht man nicht
Nuckel werden nirgends empfohlen – weder von der WHO („Schnuller sollen vermieden werden“) noch von Kinderärzten. Dass Schnuller schädlich sein können und mit Chemikalien belastet sind, dass das Argument „Daumen macht Kiefer schief“ nicht mehr unwidersprochen ist, darüber spricht man nicht. Schnuller sind bequem. Also werden sie verwendet. Nicht wie eine Medizin, sondern ständig. Häufig sehe ich, wie Eltern ihren Kindern den Schnuller nicht „geben“, sondern gelinde gesagt „aufdrängen“. Da wird der Schnuller solang in den schreienden Babymund gedrückt, bis das Kind endlich ansaugt (was häufig lange dauert).
Wenn so ein Kind mit zwei oder sogar drei Jahren auf dem Spielplatz noch mit Schnuller rumrennt, habe ich übrigens noch niemand sagen hören „WAS?! Wielange wollt ihr denn noch…?“… Brust ist bäh, Plastik siegt.
Aber ich kann mir nur an die eigene Nase fassen. Ich habe noch nie eine Freundin darauf hingewiesen, dass ich ihre Mund-Stopf-Aktionen häßlich finde. Dass mir ihr Dreijähriger leid tut, weil ich ihn mit Nuckel im Mund nicht verstehen kann. Ich finde es schwer, da etwas zu sagen. Ich bin besser darin, etwas zu tun: Ich stille meinen Sohn, wann immer er ein Nuckelbedürfnis hat. Und höre mir artig die entsetzten Kommentare an.
Aber bin ich mal den ganzen Tag unterwegs, kann mein Kind auch locker ohne.
Okay – let’s talk about it: Wir halten unser Kind ab, weil ich volle Windeln ekelhaft finde. Wir stillen noch immer und ich plane nicht „endlich mal“ mit abstillen anzufangen (Herrgott, warum auch? Das passiert doch graduell seit Monaten und von ganz alleine, ich kann ja gar nicht mehr immer da sein). Und ja, ich sage meinem Sohn „ui, ja, das hat sicher weh getan“, weil manche Dinge nunmal einfach weh tun (und er beruhigt sich übrigens innerhalb von weniger als 10 sec und spielt zufrieden weiter).
Puh. Endlich isses raus ;).
Sehr schön geschrieben! 🙂 Über diese Thema mache ich mir auch öfters Gedanken. Aber sich zu verstecken hilft allen nicht weiter. Ich und meine Kleine, wir machen unser Ding, egal was andere denken. Vielleicht denkt sich ja der eine oder andere: Wenn die das so machen, warum können wir das nicht auch so? Vielleicht kann man aus einer Vorbildfunktion heraus auf andere Menschen wirken?! Die dann sehen, es geht auch anders…
Dennoch auf Konfrontationskurs gehe ich auch nicht, selbst wenn mir so manches auf der Zunge liegt.
Stillen – kenn ich, seufz…
Was das Tabu gegenüber Schmerzen betrifft: Das ist ja nicht nur nervig, sondern tatsächlich auch ein Problem.
Denn so kriegt das Kind ja vermittelt, dass die Gefühle, die es da hat – nämlich Schmerz – nur Scheingefühle sind, irgendwie verkehrt und also nicht so richtig dazugehören dürfen. Es lernt ja gar nicht, die Gefühle zu benennen, damit umzugehen, sie zu bewältigen etc. Das gleiche gilt natürlich auch für Gefühle wie Trauer („ach komm, wein doch nicht“) oder Wut („sei nicht so aggressiv!“) etc.
Später darf dann der Psychotherapeut das wieder ausbaden, wenns gut läuft. Wenns schlecht läuft geht der Mensch eben durchs Leben und wird immer wieder von unerklärlichen Wallungen überfallen. Seufz…
Liebe Nica,
Diesen Text habe ich mir abgespeichert – grandios!
Gerade heute nacht konnte ich wieder nicht schlafen und weißt Du warum? Weil mir seit der Geburt unserer Tochter (13 Wochen) genau das klar wird. Ich bin (vorallem hier in Mainz) ganz schön allein auf weiter Flur. Ein Glück gibt es Internet. Und ein Glück gibt es so schlaue Frauen wie Dich!
Toll und danke! Und haaaaallooo Bettina!!
Liebe Grüße,
Jo
*freu*
Und der Kobold in mir dreht schon weiter – ein nächster Text zur Frage „Tabus unter AP-Eltern“ ist in Arbeit :)! Wenn euch was dazu einfällt, freu ich mich über Input!
Haaalloooo Jo!
Schön von Dir zu hören! Ich hoffe, Du und EO stellt was auf die Beine da unten bei Euch. Ich glaube, es gibt überall offene nette Leute!
Tabus unter AP-Eltern:
1.)Definitv alles was du zu Windeln oben geschrieben hast.
2.)Fremdbetreuung, oft prinzipiell nicht gut, egal unter welchen Umständen
3.)Brei ebenso schlimm
4.)Impfen gaaanz schlimm
usw.
Grüsse
Bettina
Ja, wir sollten wirklich mal einen schönen Winterspaziergang oder ein gemütliches Teetrinken mit Kinden veranstalten :-), jetzt wo Jo sich nach der Geburt einigermaßen sortiert hat (und ich mich in meiner zweiten Schwangerschaft etwas eingerichtet habe 🙂 Jo, ich melde mich demnächst mal in Ruhe per E-Mail bei Dir
Liebe Grüße
Eva
5.) Anhänglichkeit/Fremdeln – „Der ist aber anhänglich. Bestimmt, weil er in keine Einrichtung geht…“
6.) Sofort reagieren, wenn sich das Kind meldet
7.) Nachgeben, vor allem, wenn das Kind sehr fordernd ist („ne, SO schonmal gar nicht“)
8.) Das Anziehen/Ausziehen übernehmen – „Nicht so verwöhnen, das muss er jetzt aber mal langsam selber machen“
9.) Trösten, bis das Kind genug hat
Hallo EO!
Auja! Hier wartet noch ein Paketchen auf Dich….! Hoffe es geht Dir bei allem gut!
Meine Erfahrungen mit AP (und die wenigsten wissen, daß sich unser „Erziehungsstil“ damit deckt…!
10.) Ausschließlich tragen wollen, ich muß mir da von anderen Eltern sooo oft was anhören. „Pass auf Deinen Rücken auf“, „Warte bis sie mal die fünf Kilo überschritten hat“, „ihr werdet schon noch einen Kinderwagen brauchen“ An dieser Stelle ein Lob an alle älteren Menschen, die durch die Bank weg vom Tragen begeistert sind und solche Dinge sagen wie „Da hat sie es doch am besten, an Mutters Brust“, da hat mich noch nie jemand „kritisiert“. Und an meine eigene Mutter, die AP einfach super findet und schon eine Krise hatte, weil sie mich im 70iger Jahre-Stil erzogen hat. Da habe ich sie beruhigt! Aber sie steht total hinter mir. Und uns allen! Surft stundenlang, um sich zu informieren.
11.) zu Punkt 6.) „Schreien stärkt die Lungen“, hat ernsthaft ein Vater zu mir gesagt.
12.) Sie hat ja gar keinen Schnuller, na das kommt noch. (Des Vaters Ehefrau).
13.) Flaschennahrung ist besser, weil man dann die Menge kontrollieren kann (ein anderer Vater).
14.) So am Rande, erster Vater „Das haben die uns im Babykurs nicht erzählt, daß das Baby beim Wickeln zappelt“
15.) Ein letzter Punkt am Rande. Ehefrau eines guten Kumpels meines Mannes „Hihi, ist das etwa ihr Töpfchen (Asia-Topf, der im Wohnzimmer steht)?“, „Ja.“ „Ohje, die Arme!!“ (sie hat drei Kinder)
USW…
komisch. so doofe kommentare krieg ich irgendwie nicht zu hören. kenne ich zu wenig eltern? eigentlich nicht. in der freikirche in der ich bin ist das tragen, stillen, familienbett….sehr normal.
allerdings gehöre ich zu der verteufelten schnullernutzer-liga.