Jesper Juul in Berlin – "Erziehung funktioniert nicht"

Der dänische Familientherapeut, Buchautor und Famillylab-Gründer Jesper Juul war am 1.10.2010 in Berlin und hat über seine Philosophie von Eltern-Kind-Beziehungen gesprochen (im Familienhandbuch gibt es einen Überblicksartikel zu seinen Grundprinzipien). Die Heilandskirche in Moabit war an diesem Donnerstagabend bis auf den letzten Platz belegt und es gab hinterher noch eine interessante Diskussion. Ich habe den Vortrag mitgeschrieben – nicht wortgetreu, aber so inhaltstreu, wie ich konnte.
Infos zu Jesper Juul im Familylab, ein Interview im Abendblatt (danke für den Link, Christina!) und für den originalen Klang eine Podiumsdiskussion auf Familylab.de.

Der Vortrag in Berlin hieß Eltern sein ohne Handbuch! und Juul sagt über das Thema, das sei ein Ausschnitt aus einem Buch, das er gerade im Kopf hat, aber keine Zeit habe zu schreiben.

Es geht ihm darum, dass niemand außer den Eltern selbst herausfinden kann, was richtig für sie und ihre Kinder ist. Er selbst möchte nicht als Erziehungsexperte gesehen werden, er selbst wisse nur, was zu tun sie, wenn es mal schiefgehe. Eltern sollten sich in jedem Fall darüber klar werden, welche Erziehungsziele sie verfolgen und warum. Erst danach könne man darüber nachdenken, wie man diese Ziele am besten erreicht und welche Effekte das auf die Kinder hat. Juul verhehlt nicht, dass er aufgrund seiner Erfahrung als Familientherapeut davon ausgeht, dass Kinder gesünder werden, wenn sie als Subjekte behandelt werden statt als Objekte. Aber er stellt es jeden Eltern frei, dies selbst zu entscheiden.

Gleichzeitig entlastet er die Eltern: Erziehung muss nicht perfekt sein, eigentlich muss sie gar nicht sein. Es reicht, den Kindern a) vorzuleben, was man selbst möchte (z.B. höflicher Umgang) und b) authentisch zu sein und seine Kinder als Menschen wahrzunehmen (sie z.B. erst einmal zu fragen, wenn sie nicht in Schule oder Kita wollen, warum das der Fall ist und auch zuzugeben, wenn man am Ende des eigenen Lateins ist). „Eltern erziehen viel zu viel“, sagt er und außerdem machen sich perfektionistische Eltern zudem häufig Sorgen, was ihren Kindern alles schaden könne (Zucker, Weißbrot, eine die Contenance verlierende Mama…), dabei seien Kinder durchaus in der Lage, mit authentischen Situationen umzugehen.

Die Essenz: Ein jeder finde heraus, was für ihn richtig ist, sei sich über seine Ziele und deren Effekte klar und dann: Eltern, entspannt euch. Nur weil alles problematisiert wird, ist noch lange nicht alles ein Problem.

Der Vortrag im Detail:

Eltern sein ohne Handbuch! Eine sinnvolle Herausforderung?

Juul fängt an mit der Frage: Macht das Leben überhaupt Sinn? Die Idee kam ihm nicht nur als Provokation. Das große Gaschäft bei amerikanischen Eltern sei derzeit Potty Training! (HA! Merket auf, windelfrei-Mamas ;)). Dazu gibt es 6 Bücher für die Eltern, 4 für das Kind und 10 Prämien – alles in einem Paket zu 895 Dollar… und Juul ist erschüttert, dass es angeblich soviel Literatur braucht, um die Kinder sauber zu kriegen. „Das macht mich nicht mehr wütend, es macht mich traurig“, wieso ist das so?, fragt Juul. Ist unserer Welt so übernommen worden von Experten und Spezialisten? Ist alles entweder ein Problem oder eine Leistung, die man schaffen muss, um richtig zu sein? Mütter haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihren Kindern Weißbrot geben – es muss ja Vollkorn sein. Sie glauben den Spezialisten, die sagen, wenn sie es nicht so machen, wie ich es sage, ist ihr Kind in Lebensgefahr – so läuft das Geschäft. Die Situation für Juul ist so: Man kann alles problematisieren und alles wird problematisiert.
Juul und seine Kollegen bei Familylab haben – satirisch – überlegt, ob sie nicht ein Ess- oder Schlafdiplom erfinden, „das würde sich gut verkaufen“. Aber Juuls Ansatz ist ein anderer:

Aber ich will lieber den Eltern beibringen: Was will ich? Was wollen wir? Warum? Was glaube ich? Die beste Antwort ist: Ich habe keine Ahnung. Ich wiederhole mich: Ich weiß NICHTS über Kindererziehung. Ich weiß überhaupt nichts über Kindererziehung. Es gibt soviele Millionen verschiedene Familien, die es so verschieden machen und die überleben nicht nur, die haben frohe Kinder etc. wer in der Welt kann sagen, wie man es richtig macht? Jeder ist Experte für sein Kind. Ich weiß nur, was man macht, wenn es schief geht, wenn es nicht läuft, aber auch dann muss ich fragne: Was wollen sie? Vater und Mutter? Und warum? Was hat das mit mir und mit anderen zu tun?
Überall in Europa haben wir wieder Leute, die sagen: „Man“ macht es aber so! Meine Nachbarn, Schule etc. sagen, „man“ macht es so oder so. Mich stört es, das Eltern so oberflächlich denken. Ich will das nicht, es fühlt sich nicht gut an, aber es stört meine Mutter – oder meine Lehrer oder die Erzieherin. Aber die haben ja keine Ahnung von der Erziehung von Kindern! Die Eltern müssen die Autorität wieder an sich nehmen.
Um das machen zu können, wäre mein Vorschlag, muss man eine Wahl treffen. Was wollen wir für eine Beziehung für unser Kind. „liebevoll“? das kommt schon. Aber: Wollen wir eine Subjekt-Objekt oder eine Subjekt-Subjekt-Beziehung. Was macht man mit einem 8 Monate alten, der nicht schlafen möchte, das wollen die Eltern wissen. Sie fragen mich, was macht man MIT einem Objekt, sie sagen, geben sie mir eine Methode, ein WERKZEUG. Aber sowas gibt es nicht. Es gibt keine Antwort. Man kann sich unter Freunden unterhalten und erzählen, bei UNS hat es so funktioniert. Wenn das bei mir funktioniert, wunderbar, wenn nicht, muss ich die Freunde wechseln *der Saal lacht* oder es selbst herausfinden.

Fragt euch: Bin ich bereit, dieses Kind als Mensch wahrzunehmen? Oder nicht? In den USA sind Kinder immer Objekte, das wird wohl auch so bleiben. Aber in Europa ist das anders.

Juul zieht den großen Rahmen auf: Erziehung ist gescheitert, zuviele Menschen sind krank. Er nennt Zahlen von Alkoholismus, Depressionen, erzählt aus seiner Erfahrung aus der Familientherapie.
Juul erzählt, was seine persönlichen Ziele sind:

Mentale, physische und psycho-soziale Gesundheit der Kinder. Warum? Weil die Menschen noch nie so krank waren wie jetzt, unsere Erziehung war nicht erfolgreich, wir haben hohe Alkoholikerzahlen, wir haben einen hohen Verbrauch von Psychopharmaka.

Dann macht er eine Liste der möglichen Elternziele auf und spricht über die einzelnen und ihre Effekte. Wichtig erscheint mir, dass er sagt, natürlich sind alle Ziele legitim, man muss sich nur darüber im Klaren sein, was der entsprechende Umgang mit den Kindern macht.
Mögliche Eltern-Ziele:

Manche Eltern wollen gehorsame Kinder.

Ein Ziel sind gehorsame Kinder – viele Eltern wollen anders sein als ihre Eltern, aber haben dasselbe Ziel: Gehorsame Kinder. Und wundern sich, dass das nicht funktioniert. Juul glaubt, dass Gehorsamkeit gefährlich ist – für die Gehorsamen. Gehorsam ist schon möglich, man muss nur hin und wieder bestrafen – heute heißt das „Konsequenzen“ aufzeigen.

Manche Kinder wollen verantwortliche Kinder

Schauen wir mal bei uns – was haben wir gelernt: wenn du jemanden liebst, musst du lügen, z.B. wenn du nicht mit ihm telefonieren willst, gehst du trotzdem ran und bist „nett“. Die Wahrheit geht einfach nicht. Aber wollen wir verantwortliche Kinder oder nicht? Die Probleme, die wir Erwachsene heute haben, haben wir, weil wir als Kinder gelernt haben, nett sein zu müssen. Weil wir nicht Ja sagen durften, wenn wir ja meinten und nicht nein sagen durften, wenn wir nein meinten. „Sei nett zu der Oma!“ Die kinder müssen immer nett sein, wir müssen immer nett sein. Das lehren wir. Und umgekehrt sind wir auch so falsch nett zu unseren Kindern…wir sagen zu unserem das Telefonat störenden Kleinkind „Mutti möchte jetzt gerne weiter telefonieren…“ statt klar und deutlich zu sagen „Schatz, ICH WILL Jetzt telefonieren geh weg, sei jetzt still“

Dann macht er einen kleinen Exkurs:

„Eltern sollen positive Vorbilder sein“ – ich sage ihnen, das ist nicht möglich. Und werden das positive Kinder, wenn wir positive Vorbilder waren? Nö. Was waren meine Eltern für Vorbilder für mich – die meisten werden sehen, dass sie viel mehr von den negativen Vorbildern gelernt haben als von den positiven. Wenn sie das versuchen, ein „gutes Vorbild zu sein“, kriegen sie wirklich Ärger, die Kinder glauben das ja auch nicht, dass ihre Eltern so Übermenschen sind.

Aber jetzt weiter mit den Zielen:
– Ruhige Kinder mit Essens- und Schlafdiplom

Wenn ich glaube, dass Du hunger hat, dann isst du, wenn ich dich um 19:45 hinlege und nett bin, dann schläfst du bitte – das funktioniert nicht. Das sind Funktions-Kinder, keine Menschen mehr. Wir sind dann sauer, wenn es nicht klappt – aber so geht es eben nicht.

Nette und harmonische Kinder

Alle Eltern sagen mir am Anfang der Therapie, unser Kind ist liebevoll, harmonisch sozial, empathisch und nett, ABER … das sind genau dieselben Wertvorstellungen, die unsere Eltern hatten, wir wollen Kinder, auf die wir stolz sein können, jeder auf der Strasse soll sehen, ich bin ein guter Vater – da geht es nur noch um uns, nicht mehr um das Kind.

– lebendiges Kind

Ein lebendiges Kind wollen auch viele Eltern, aber das ist nicht möglich, wenn man gleichzeitig ein ruhiges Kind als Ziel hat. Erst muss es erlaubt sein, lebendig zu sein, dann ist es auch einfach, nett zu sein. Aber wer am Anfang schon immer nur nett sein muss, den wird das umbringen. Wir bringen unseren Kinder bei, du darfst böse oder wütend sein oder traurig, aber bitte nicht so wie jetzt gerade, nicht so laut, nicht so wild, nicht so extrem…was wir den Kindern damit eigentlich beibringen ist: Wir wollen deine Gefühle nicht.

Juul fragt, ob „Erfolg/Qualität ist die Verwirklichung meiner Wert-Vorstelungen“ sei? Kinder leiden unter einem sehr großen Druck durch diese Ansicht. Es brauche schon viel Mut für ein Kleinkind und erst recht für ein 14Jähriges Kind, den Eltern zu sagen, dass man auf gar keinen Fall mehr in diese Kita oder diese Schule gehen könne.

Stellt euch vor, wenn euer Partner euch sagen würde, er wolle nicht mehr arbeiten. Wir würden ihm hoffentlich nicht sagen: Du gehst da morgen wieder hin und basta. Bei Kindern jedoch tun wir das, oder „motivieren“ sie, doch zu gehen. Aber Kinder brauchen keine Eltern, wenn es ihnen gut geht, sie brauchen Eltern WENN ES SCHIEFGEHT.

Sie brauchen nach Juul Freunde, erwachsene Freunde und zwar Eltern, die so agieren. Die den Überblick haben und authentisch sind.

Sie brauchen Eltern, die Fragen: „Wielange denkst du schon draüber nach, dass Du nicht mehr in die Schule willst? Drei Monate? Ganz alleine? Wie traurig! Du… ich bin auch so aufgeregt jetzt, ich muss mich entspannen…damit ich nachdenken kann. Was machen wir jetzt, um uns zu entspannen? Pizza essen, Fernsehen gucken?“

Es gebe so oder so kein „richtig“ mehr, wir müssen es selbst herausfinden.

Nächste Frage: Wie wichtig ist mein Selbstbild und mein Image für mich?

Vieles, was wir zu unserem Kind sagen, ist nur zu 30% für das Kind, der Rest ist Imagearbeit. Die Kinder wissen das, für die st das okay, die sortieren die 70% Imagewerbung einfach aus…und dann kommen die Eltern und sagen, mein Kind hört nicht zu. Und wenn man fragt, was sie sagen, dann stellt man fest, dass das gut ist, dass das Kind nicht zuhört, das meiste davon ist gar nicht für das Kind gemeint. Das ist okay, aber wir sollten nicht von den Kindern verlangen, dass sie auf 100% reagieren.

Kinder werden seiner Ansicht nach heute viel zu viel „erzogen“. Mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit (eine These, die übrigens auch Herbert Renz-Polster in „Kinder verstehen“ vertritt).

Und die Kinder haben überhaupt keine Wahl – sie können die Erzieher nicht wählen, nicht in der Kita, nicht in der Schule, jahrelang Zwang. 95% kooperieren trotzdem wunderbar, das ist ein Wunder. Die anderen haben Schwierigkeiten, aber dafür haben wir ja Diagnosen… Es gibt keine erwachsenenfreien Zonen mehr, es sind immer Erwachsene dabei! Und dann reden die Leute davon, dass Kinder Grenzen brauchen – sie haben aber doch schon überall Grenzen.
90% dieser Erziehung macht auf Kinder keinen Eindruck- also was Erwachsene machen, wenn sie denken, jetzt erziehe ich… das ist auch völlig okay. Man könnte 80% davon weglassen und auf der Couch Zeitung lesen.

Das erinnert mich stark an Tom Hodgkinson und sein Konzept vom Faulen Elternsein (hier das Interview mit ihm in der Unerzogen und sein Buch).

Juul vertritt wie Karl Valentin die Ansicht, dass man Kinder nicht erziehen könne, weil sie einem eh alles nachmachen ;). Und dass wir das nutzen sollten – uns so verhalten, wie wir das von ihnen umgekehrt auch möchten.

Was muss ich machen, damit mein Kind mit anderen anständig umgeht? Mit anderen anständig umgehen – auch MIT MEINEN KINDERN. Statt „Mach es so…mach es so…“ ständig zu sagen – stellen Sie sich vor, ihr Partner ginge so mit ihnen um, das ist so demütigend, die Kinder lernen dabei nur, uns zu beruhigen und artig guten Tag zu sagen, aber sie lernen nicht, anständig mit anderen und sich umzugehen. Kinder wollen kooperieren, sie versuchen, das zu tun, was die Eltern wollen. Wenn wir es ihnen trotzdem ständig 20x sagen, sind sie frustriert und denken, sehen die nicht, dass ich das vesuche??? Warum sagen sie das immer wieder?

Was ist auf der anderen Seite von Erziehung? Vergnügen! Zurücklehnen, Klappe halten, Kinder anschauen und sie genießen. Ihnen sagen, dass sie wunderbar sind. Nicht Ich liebe Dich, denn das sagt nur etwas über UNS, das befriedigt nur uns!! Die Kinder möchten gerne WISSEN WARUM sie geliebt werden. Sie wollen wissen, dass sie genauso okay sind, wie sie sind. aber das ist nicht in Mode…

Kinder brauchen zwar Erziehung, aber keine Eltern, die ständig erziehen. Sie brauchen Menschen, die ihnen vorleben, wie man mit der Welt und den Menschen umgeht. Wie man miteinander redet etc. Das kopieren sie dann.

Und wenn es dann doch zu Problemen gekommen ist?

Es gibt keine „Probleme“, nur Tatsachen. Wie wir mit Tatsachen umgehen, entscheidet unser Erlebnis von Lebensqualität. Probleme erfordern Lösungen, aber es gibt keine Lösungen, wir können nur feststellen, wie wir mit den Tatsachen umgehen. Wir wissen bei uns nur, wir kann man sich zu den Tatsachen verhalten, unsere Kinder müssen von uns lernen, wie man sich verhalten kann. Die verschiedenen Verhaltensalternativen. Wir können mit Kindern auch genau so über die Dinge reden: Was machen wir mit diesen Tatsachen? wenn ich nicht mehr weiß, was zu tun ist, dann ist die Antwort der Dialog mit Freunden, Verwandten – oder am besten mit den Kindern selbst.

4 Gedanken zu „Jesper Juul in Berlin – "Erziehung funktioniert nicht"

  1. 😀 danke, vor allem von Dir freut mich der Kommentar natürlich, da Du ja mit dabei warst. Das war sowieso eine ganz wunderbarer Aspekt des Abends, soviele Windelfrei-Blog-Leserinnen und Freunde dort zu treffen.!

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