Aus den Zeilen einer befreundeten Mutter las ich jüngst, dass Windelfrei sie in zwei Konflikte stürzte. Der Vater des Kindes fand es albern (oder sie glaubte das zumindest) und das Kind streikte und war von Mamas Abhalte-Aktionen genervt. Sie fühlte sich einerseits gestresst und „schuldig“, dass es nicht mehr „klappte“, wollte aber andererseits nach fast einem Jahr windelfrei jetzt auch nicht riskieren, dass ihr Kind alles „verlernt“.
Ich sehe Laurie Boucke vor mir, wie Sie angesichts solcher Gedanken liebevoll den Kopf schüttelt und mit ihrem hinreißenden, niederländischen Akzent sagt: „Ihr deutschen Mütter seid einfach so perfektionistisch…“.
Windelfrei teilt mit dem Stillen das Schicksal, das wir häufig von der Meinung anderer Leute beeinflusst werden und sie uns zumindest unter Druck setzen können. Wenn die Schwiegermutter strikt gegen das Stillen ist, dann stillt die junge Mutter eher ab, bei windelfrei ist es nicht anders: Schüttelt ein Familienmitglied bei jedem Abhalten oder jedem Protest des Kindes genervt den Kopf, vergeht uns bald die Lust (dabei ist Protest normal und auch das Stillen klappt ja nicht immer 100%ig). Laufen lernt man nun einmal nur, wenn man einmal mehr aufsteht als hinfällt.
Dass wir uns immer selbst die Schuld geben, wenn es „nicht klappt“ – ob stillen oder windelfrei – das scheint mir sehr deutsch zu sein. Dabei haben wir das einfach nicht in der Hand. Ich kenne Mütter, die aus meiner Sicht einfach absolute Wunder-Mamas sind und bei denen EC/Windelfrei trotzdem nicht „geklappt“ hat, weil ihre Kinder einfach keinen Bock drauf hatten (siehe Claudias Posting). EC ist kein Wie-gute-Mutter-bist-Du-Test. Es ist ein Angebot. Es sagt ÜBERHAUPT NICHTS über unsere Qualifikation als Mutter, über unsere Liebe, über unser Sein aus, ob unser Baby das gerade gut findet oder nicht.
In anderen Ländern und Umständen kann man ein nicht-abhaltewilliges Kind halt viel einfacher mal in Ruhe lassen. Wenn Kinder in Zentralafrika oder Südindien Krabbeln oder Laufen lernen, sind sie ja eh mehr draußen, so who cares? Das ist anders, wenn ein Kind in der Bonner Innenstadt im Winter Laufen lernt ;).
EDIT: Einen weiteren Gedanken hab ich noch: Die Kernfamilie ist auch hier wieder nur ein HIflskonstrukt. Wo neben den Eltern auch Tante, Schwester, Oma und andere Kinder bei der Pflege des Kleinkindes mithelfen, ist auch windelfrei einfacher. Babies lassen sich gerne von größeren Kindern abhalten, bei uns z.B. darf die Oma alles, auch wenn er sonst gerade einen Anzieh-Abhalte- oder sonstigen Streik hat. Es braucht ein Dorf…./EDIT
Aber selbst wenn wir zur Entspannung von Mutter und Kind auf Windeln oder Mullwindeln zurückgreifen und eine Pause machen, werden die Kinder es nicht verlernen.
Manchmal ist es möglicherweise auch genau unsere Perfektion, die uns ein Schnippchen schlägt. Wenn wir immer sofort Hose oder nasse Mullwindel wechseln, haben die Kinder ja nie ein unangenehmes Gefühl. Ich hatte auch mal so ne Phase, in der ich mich gefragt habe, ob mein aufmerksames sofort-Wechseln vielleicht kontraproduktiv ist, weil sie ja nie nass sind. Aber nass sein gehört vielleicht dazu, um zu merken, was da in der Hose passiert?
Ich hatte auch immer mal wieder das Gefühl, dass wir mit Windelfrei am Punkt Null angelangt waren, dass es einfach nicht mehr ging. Meistens hatte ich mich gerade damit abgefunden und zack – ging es wieder, manchmal einfach nur, weil ich die Windeln daheim vergessen hatte :). Ein Lesetipp von mir: Windelfrei-Mythen. Besagt: Windelfrei-Kinder sind weder mit 10 Monaten selbstständig sauber noch ist windelfrei „streikfrei“ wenn Mama nur ausreichend motiviert „dabei ist“.
Mein Tipp wäre auch: Vergesst bei euren Streikkindern doch mal die kleinen Geschäfte und schaut, ob ihr euch auf die großen „einigen“ könnt. Das war bei uns auch lange so und ist bei vielen EC-Mamas so. Wie sagt Laurie Boucke so schön? „Vollzeit-Windelfrei? Wozu??“
Dieser Post wird nominiert für den Conscious-Parenting-Award des Monats. 🙂
:)))))
Ach, Nic, wieso lese ich dieses Posting erst jetzt????? Bin irgendwie drauf gestoßen…ist ja schon ne Weile her.
Du bist einfach umwerfend!
Nee, mal ehrlich, ich habe noch nie in meinem Leben jemanden getroffen, der in der Art zu schreiben so viel Mut macht, der NIE Druck aufbaut, NIE Eltern Leistung abverlangt. Du schreibst so unterstützend und empathisch, ich ziehe den Hut vor Deinem Einfühlungsvermögen. Es ist spürbar, wie sehr auch Du in Deinem Leben Dir die gleichen Fragen stellst wie wir. Wir alle wollen „Gute Mütter“ sein, und ehrlich, ich habe genau diesen Gedanken immer und immer wieder gehabt: Wenn windelfrei nach einem Jahr so gar nicht mehr „klappen“ will, dann war ich bestimmt nicht „gut“ in „windelfrei“.
Ich habe mittlerweile gelernt zu akzeptieren, dass ein Jahr windelfrei im Verhältnis zu gar nicht windelfrei ein echtes Geschenk ist! Und ehrlich gesagt, hatte ich auch nicht die Demut vor mir selber, teilzeit-windelfrei zu praktizieren. Es lief mehr oder weniger auf ganz-oder-gar-nicht heraus, so als wollte ich mir und der Welt um mich herum beweisen, dass es geht. Das hat mich zwischendurch irrsinnig gestresst. Es war ja 2008, Dein Blog im Aufbau, die Windelfrei-Gemeinde noch ganz klein. Shops wie Abhala.de gab es nicht, alles Semi-Kommerzielle lief über Tschechien. Du hast mit Deiner Leidenschaft gepaart mit Deinem journalistischen Talent so irrsinnig viel auf den Weg gebracht. Mein großes Kompliment! Ich hoffe, ich darf das hier so öffentlich sagen, aber ohne Dich wäre die attachment-parenting-Gemeinde sehr viel ärmer 🙂
Danke für Deine Seelensorge!
Claudia
Schöner Text. UND: auch wenn der Satz hier nur angerissen ist… Es braucht ein Dorf… Aaahhhhhh ich kann es nicht mehr hören. Ich hasse diesen Satz. Und er findet sich fast immer in fast jedem Artikel zu egal welchem Thema. Schön, wer ein Dorf hat, schön wer Familie in der Nähe hat. Hat aber nicht jeder. Und auch wenn ich in dem Dorf geblieben wäre, in dem ich aufgewachsen bin und somit meine Familie um mich haben würde. Die würde ich sicher nicht meine Kinder großziehen lassen.