Wir ziehen jetzt durch, das Kind muss auch mal funktionieren!

Ist es nicht unser Job, unsere Kinder zu schützen?
Ist es nicht unser Job, unsere Kinder zu schützen?

Heute Morgen habe ich mich wirklich schrecklich über meinen artgerechten Sohn geärgert. Wieso geht der nicht einfach zur Schule, wie alle anderen? Was soll das Theater am Morgen? Verflixt, war das doch nicht so gut mit der Gleichwürdigkeit und der Bedürfniserfüllung? Das Kind FUNKTIONIERT einfach nicht!

Durchziehen – um welchen Preis?

Wie ihr wisst, bin ich jemand, der sehr viel auf soziale Regeln hält. Und ich finde auch, dass jedes Familienmitglied – Bedürfnisse hin oder her – seinen Beitrag zum Zusammenleben leisten muss. Irgendwie.

Mein erstes kleines Artgerecht-Baby ist mittlerweile zehn Jahre alt. Heute Morgen verkündete er, er werde heute nicht in die Schule gehen. Dazu muss man wissen, dass er sich beim Basketball die Hand verstaucht hat, aber gestern eigentlich damit gut in der Schule war. Ich verstand also nicht, was heute das Problem sein sollte. „Wir schreiben heute eine Arbeit.“ „Ja, aber dann solltest du doch gerade in der Schule sein!“ „Nein, ich gehe nicht! Meine Hand tut weh!“ „Gestern tat sie doch auch nicht so weh? Was ist passiert? Du gehst!“

Ich war sauer. Ich fühlte mich veräppelt. Ich wollte lostoben.

Dann dachte ich an das artgerecht Kleinkinderbuch, das ich gerade geschrieben habe (kommt im Mai 2018). Und an das Kapitel über Kommunikation und so.

Runterfahren, hinhocken, fragen

Okay, also, ich riss mich zusammen, hockte mich auf den Boden und fragte: „Okay, erzähl mal, was ist los?“ Dann kam es: Mein Kind wollte nicht die Arbeit schwänzen. Mein Kind hatte Angst, dass seine Hand der Belastung einer Klassenarbeit nicht stand halten würde. Und statt dass die Lehrerin den Druck raus nimmt und sagt: „Du versuchst es und wenn es nicht geht, holen wir das nach“, hatte die Pädagogin nach Aussage meines Sohnes gestern zu ihm auf seine Sorgen hin gesagt: „Du schreibst morgen mit. Egal wie. Wenn es rechts nicht geht, schreibst du eben mit links!“ Das Kind war verzweifelt – mit links? Das würde doch niemand lesen können!

Ich kenne die Frau nicht. Wahrscheinlich hat sie es weder so radikal gesagt noch gemeint wie mein Sohn es gehört hat. Aber mein Kind war voller Angst.

Egal, der Junge muss in die Schule! sagte mein Verstand streng. 
Der Junge muss gar nichts! sagte mein Herz sanft.

Wir schützen unsere Kinder – das ist unser Job

Ich sah mein kleines Baby, das nicht alleine schlafen musste, weil es dann Angst gehabt hätte. Ich sah meinen kleinen Sohn, der sich von niemandem anfassen lassen musste, wenn er das nicht wollte. Ich sah mein Grundschulkind, das fröhlich und freudig loszog, um endlich schreiben zu lernen. Dieses Kind stand jetzt vor mir, mit Tränen in den Augen und hatte – Angst. Angst vor der Schule.

Da begriff ich. Nicht das Kind funktioniert heute morgen nicht. Die Schule funktioniert nicht. Es ist nicht Aufgabe meines Kindes, an einen Ort zu gehen, vor dem es sich fürchtet. Es ist unsere Aufgabe als Erwachsene, dafür zu sorgen, dass er sich nicht fürchtet. Dass er gerne lernt. Es ist meine Aufgabe, ihn zu schützen, für ihn das zu sein, den Stress zu reduzieren und Lösungen zu finden. Nach meinen Klassenarbeiten hat niemand jemals gefragt. Aber das Gefühl, von meinen Eltern verstanden und bei Bedarf auch geschützt zu werden – das hat mich ein Leben lang geprägt.

Jetzt sitzt er – freiwillig – am Klavier und übt. Es ist nicht so, dass er nicht gerne lernt. Aber er funktioniert nicht unter Druck. Und nicht mit Drohungen. Auch nicht mit kleinen. Also bleibt er heute zu Hause.

Eigentlich wäre ich mitgegangen und hätte mit der Lehrerin das Missverständnis aufgeklärt. Ich finde den persönlichen Kontakt immer noch am besten und dann hätte er auch in die Schule gehen können. Aber ich habe heute Morgen keine Zeit gehabt. Daher treffe ich sie jetzt am Montag und das Kind bleibt bei mir.

Kinder wollen kooperieren -immer 

Auch wenn ich es mir selbst manchmal nicht glaube: Kinder wollen kooperieren. Immer. Wenn sie nicht kooperieren, dann müssen wir hinter das Verhalten schauen und das Bedürfnis finden. Mein Sohn ist anstrengend – weil er immer den Finger in die Wunde legt. Weil er immer „ausschert“, wenn etwas für ihn nicht stimmt. Er ist der Kanarienvogel in der Kohlenmine, der umso lauter singt, je unwohler er sich fühlt. Mein Signalhorn für falsche Situationen. Er zieht nicht durch. Er sagt: Stopp!. Er sagt: Schau hin! Er sagt: Sieh mich!

Er funktioniert nicht.
Ja, ich finde dieses Kind manchmal anstrengend.
Ja, ich liebe dieses Kind.

Und oh mein Gott – ich kann so viel von ihm lernen.

/nicola