Meine liebste Freundin Andra stellt mir immer die besten Fragen. „Warum nimmst du eigentlich die Jäger und Sammler zum Vorbild und nicht die Bauern, also die agrarische Phase?“
Gute Frage. Verdammt gute Frage.
Das Artgerecht-Projekt orientiert sich in der Frage „Was ist artgerecht für menschliche Babys?“ in der Tat vollkommen an der Zeit vor dem ersten Ackerbau. Das ist – so sagt es die Wissenschaft – die Zeit vor dem Neolithikum, also etwa 10.000 Jahre her. Anders herum: Seit 15-10.000 Jahren betreiben wir Ackerbau und Viehzucht. Vorher waren wir 85-90.000 Jahre lang Jäger und Sammler. (Und davor? Davor waren wir 100.000 Jahre schon Homo Sapiens, aber noch nicht der moderne, so heißt es, ugh, ugh.)
Jäger und Sammler gab es bis in die Neuzeit.
Es waren einzelne Stämme und Völker, die noch so lebten. Kurz bevor wir die meisten davon mit dem Ackerbau ansteckten, haben die Anthropologen sie ausgiebig beobachtet. Besonders die !Kung San und ihre Untergruppen gehörten dazu. Von ihnen wird berichtet, dass sie sehr entspannte Babys und Kinder haben. Von Meredith habe ich von ihnen erfahren und die Anthropologische Literatur ist voll von Berichten.
Warum orientiere ich mich an ihnen?
1. Es fühlt sich richtig an.
2. Es war die Zeit, bevor die Erde „unterworfen“ wurde, es ist also ein gutes Vorbild, um den Planeten zu retten.
3. Wenn es eine längere, vor-patriarchale Zeit gegeben hat, dann wahrscheinlich vor dem Neolithikum
4. Mit dem Ackerbau wurden viele Verhaltensweisen, an die unsere Babys noch heute angepasst sind, plötzlich unpassend und die Abwärtssspirale begann, die heute mündet in „schläft es schon durch? stillt ihr immer noch?“ etc.
Mit dem Ackerbau wurden wir seßhaft.
Plötzlich mussten die Mütter aufs Feld und die Babys waren im Weg, aber es war auch möglich, sie in „sicheren“ Häusern zu lassen – ohne Mutter. Damit wurde das ständige Herumtragen und Stillen unterbrochen (möglicherweise ein Faktor für die einsetzende Bevölkerungsexplosion jener Zeit). Später in dieser Entwicklung wurde der Körperkontakt immer weiter eingeschränkt, weil es sich mit dem neuen Lebensstil besser und einfacher bewerkstelligen ließ. Möglicherweise gab es auch Interesse daran, die Mutter-Kind-Bindung zu schwächen, aber das sind nur Vermutungen. Die Menschen den Altsteinzeit waren zudem besser ernährt, gesünder und robuster als die der Jungsteinzeit.
Insgesamt hat der Ackerbauch nach meinen Recherchen die Situation der Babys eher verschlechtert. Daher ist die bäuerliche Familie für mich kein Vorbild. Es ist für mich ein romantisches Bild, der Bauernhof, die Tiere, eine große Gemeinschaft, dem ich auch gerne nachhänge. Aber die Verhaltensweisen und die Anforderungen dieser Lebensweise sind schon zu weit von dem entfernt, was ich „artgerecht“ nenne.
Dazu muss ich gleich sagen, dass jedem Wissenschaftler die Haare zu Berge stehen, wenn ich hier von „artgerecht“ schreibe. Beim Menschen gibt es so viele Ausprägungen der Verhaltensweisen, dass man eher von arttypisch spricht, wie ich kürzlich lernte. Macht nix. Ich bleibe bei artgerecht.
Ackerbauch? *gg*
Man kann sich an einigen noch existierenden Naturvölkern orientieren. Wie die Yequana. Das waren auch Jäger und Sammler. Hab sie grad mal gegoogelt und ein paar nette Links gefunden: http://indian-cultures.com/Cultures/yekuana.html und krass, es gibt inzwischen eine eigene Homepage der Yequana http://yekuana.chez.com/index.html.
Deswegen spende ich dann immer mal an Survival International. Denn Völker, die „die Erde unterjochen“ noch nicht auf der Tagesordnung stehen haben, haben ja nicht so richtig eine Chance gegen die anderen. Aber ich glaube auch, dass wir doch eigentlich eine Menge von den Naturvölkern zu lernen haben.
Also eigentlich wollte ich mit der Frage auf was anderes raus… Da sind wir dann zwischen den zwei Kindern nicht mehr dazu gekommen. Danke, dass Du es nochmal aufgreifst. Aber zunächst mal: Ja, gefühlsmäßig finde ich es auch richtiger sich an den Jägern und Sammlern zu orientieren, ganz einfach, weil die noch MIT und IN der Natur lebten (oder leben) und nicht gegen sie. Sie also sich nicht nutzbar machen oder unterjochen.
Aber die eigentliche Frage, die mich wirklich juckt, ist die folgende:
Wir gehen mit artgerecht davon aus, dass der Großteil unserer Gene seit der Steinzeit unverändert ist, wir also eigentlich wie Jäger und Sammler funktionieren.
Nun ist aber seit einigen Jahren klar, dass Gene durch Umwelteinflüsse verändert werden und diese Veränderungen vererbt werden können. Diese Vorgänge nennen sich Epigenetik (http://www.geo.de/GEO/mensch/medizin/53101.html?p=1). Rupert Sheldrake geht noch einen Schritt weiter und spricht von Morphogenetischen Feldern. (http://de.wikipedia.org/wiki/Morphisches_Feld)
Es ist offensichtlich, dass Babys in der Nacht in der unmittelbaren Nähe der Mama sein wollen, dass sie am liebsten nuckelnd und gekuschelt einschlafen etc. Aber warum interessieren sich kleine Jungs für Autos? Das tun sie ja auch obwohl Mama immer fährt und Papa nicht unter die Motorhaube kriecht? Könnte das eine epigenetische Übertragung sein? Oder das morphogenetische Feld?
Und wenn das so ist, wie wirken sich die Verhaltensweisen (die unschönen aber allgemein praktizierten) der letzten Jahrhunderte auf uns aus?
Vielleicht kann ja jemand da draußen was dazu sagen!
Frohe Adventszeit,
Andra
(P.S. auch ich stille, hab meine Kinder im Bett, trage und halte ab ;-))
Vielleicht ist die nächste Quarks Sendung interessant in diesem Zusammenhang: http://www.wdr.de/tv/quarks/sendungsbeitraege/2012/0828/uebersicht.jsp