Windelfrei – historisch gesehen

Windelfrei ist ein schon sehr lange bekanntes Prinzip – in historischen Handbüchern findet man Informationen dazu. Es ist nicht immer das Windelfrei, wie wir es kennen und betreiben, da wir keinerlei Druck auf die Kinder ausüben und auf ihre Zeichen reagieren, dem Kind also keinen Zeitplan aufdrängen. Aber auch das wird teilweise schon erwähnt. Karin Bergstermann durfte ich auf dem letzten Kongress der AFS kennenlernen. Sie sammelt alte Erziehungsbücher und hat für mich mal nach Windelfrei geforscht. Ihre Fundstellen sind großartig. Aber die Frage bleibt – ist es windelfrei? Oder eher etwas anderes? Was meint ihr?

Fundstelle 1 ist von 1883 und ich würde sagen, das ist fast windelfrei, allerdings leider mit festen Zeitabstand, also nicht in erster Linie auf die Signale des Kindes hin:

Über Kinder, die ein Vierteljahr alt sind:
„Um das Kind an Reinlichkeit zu gewöhnen, hält man es vor dem
Einschlafen und nach dem Aufwachen über ein Geschirr, wobei man
unwillkürlich leichten Druck auf den Unterleib ausübt. Das sog.
„Abhalten“ hat im wachen Zustande alle 1/2 Stunden stattzufinden, wobei
das Kind sehr bald merkt, was es soll.“

Aus: „Das Buch von der gesunden und kranken Frau in den ersten Stadien
des ehelichen Lebens nebst Anleitung zur Pflege des Neugeborenen und des
Säuglings und zur Erziehung des Kindes bis zum Ende seines ersten
Lebensjahres und einem Anhange über Säuglingskrankheiten“, Sanitätsrath
Dr. med. Ernst Kormann, Spezialarzt für Geburtshilfe, Frauen- und
Kinderkrankheiten zu Coburg, Mitglied der Gesellschaft für Heilkunde zu
Berlin, zweite Auflage, Erlangen, Verlag von Eduard Besold, 1883, Seite
193

Fundstelle 2 von 1875 klingt schon wieder mehr nach windelfrei:

„Es ist aber auch nöthig, daß das Kind so früh als irgend möglich an
Reinlichkeit gewöhnt werde. Schon nach den ersten drei Monaten seines
Lebens muß man diese Art der Erziehung beginnen, die damit ihren Anfang
nimmt, daß man vor jedesmaligem Niederlegen zum Schlafe und nach jedem
Erwachen und in der Zeit des Wachens alle halbe Stunde das Kind
„abhält“
(ein von Müttern wohlverstandener Ausdruck) und es, ohne zu
erkälten, durch die geeigneten üblichen Ermunterungen, niemals durch
Berührung der Geschlechstheile, so lange hält und auf den Zweck
aufmerksam zu machen sucht, bis seine gewünschte und zeitgemäße
Entleerung erfolgt ist. Uebt man dies consequent, so wird es nicht
schwer, Kinder im Alter von 4-5 Monaten zu gewöhnen, nicht nur bei
dieser Gelegenheit ihre Bedürfnisse ins Geschirr zu entleeren, sondern
auch durch Geberden und anderweitige Kennzeichen zu verstehen zu geben,
daß sie in die Situation gebracht werden wollen, wo sie sich entleeren
können
, und es gewöhnen sich auch Blase und Mastdarm an diese
Regelmäßigkeit sehr leicht. Das Kind hat aber den Vortheil davon, daß es
angenehmer und ruhiger in seiner Wäsche liegt, nicht wund wird und alle
wohltätigen Einflüsse der Reinlichkeit auf seine Gesundheit genießt.“

Aus: „Die Mutter als Erzieherin ihrer Töchter und Söhne zur physischen
und sittlichen Gesundheit vom ersten Kindesalter bis zur Reife“, Dr.
med. Hermann Klencke, zweite, neu durchgearbeitete Auflage, Verlag
Eduard Kummer, Leipzig, 1875, Seite 141 f.

Fundstelle 3 ist von 1914 und klingt nach dem, was wir auch wissen/machen:

„Es ist vielmehr alles Augenmerk darauf zu lenken, zur Stelle zu sein, bevor das Kind sich schmutzig macht. Bei einiger Aufmerksamkeit wird man
an der Unruhe des Kindes lernen, selbst nachts, rechtzeitig zur Stelle
zu sein.
Eine sorgsame Mutter kann schon das Kind im 3. Monat völlig
„stubenrein“ erhalten.“

Der volle Zusammenhang ist dieser:
„In neuerer Zeit sind auch auf dem Gebiete der Säuglingskleidung
allerlei Experimente gemacht worden. Besonders verwerflich sind jene
Moden, die den Säugling wie in einen Sack hineinstecken. Denkt immer
daran, daß die freie Beweglichkeit der Glieder, die gute Blutzirkulation
nirgends gestört werden darf.
Ja, ein findiger Kopf ist selbst auf den Gedanken gekommen, statt der
Windeln eine Art wie Torfstreu und ähnlicher aufsaugender Dinge zu
nehmen, damit das Kind nicht so oft trocken gelegt zu werden braucht.
Eine Brutalität ersten Ranges, denn das ist ja gerade die Hauptsache,
daß aller Schmutz schleunigst aus dem Kinderbette kommt.
Ein anderer hat elektrische Windeln vorgeschlagen, d.h. innerhalb der
Windeln liegen feine elektrische Drähte. Sind diese naß, dann erschallt
ein elektrisches Läutewerk. Nicht übel. Aber eine Mutter, eine Wärterin,
die erst auf das Läutewerk wartet, um das Kind trocken zu legen, kann
sich das Lehrgeld wiedergeben lassen. Es ist vielmehr alles Augenmerk
darauf zu lenken, zur Stelle zu sein, bevor das Kind sich schmutzig
macht. Bei einiger Aufmerksamkeit wird man an der Unruhe des Kindes
lernen, selbst nachts, rechtzeitig zur Stelle zu sein. Eine sorgsame
Mutter kann schon das Kind im 3. Monat völlig „stubenrein“ erhalten.“

Aus: A-B-C für junge Mütter – mit Anleitung zur Ernährung und Pflege des
Kindes bis zur Schulzeit, Nach Dr. Lahmann’s Grundsätzen, bearbeitet von
Dr. Ziegelroth, Besitzer und Leiter von Dr. Ziegelroth’s Sanatorium
Krummhübel im Riesengebirge (früher Zehlendorf), Verlag Max Richter,
Leipzig, 1914, Seite 66

Insgesamt war wahrscheinlich die Trennlinie von Abhalten-auf-Signal und Sauberkeits-Dressur fließend. Windelfrei ist definitiv KEINE Sauberkeitserziehung, ich kann das nicht oft genug sagen. Aber gleichzeitig haben wir uns das zugrundeliegende Prinzip auch nicht ausgedacht…

Ein Gedanke zu „Windelfrei – historisch gesehen

  1. Danke an Karin für diese interessanten Quellen. Gute Argumente für Leute die Windelfrei für neumodischen Quatsch halten.
    Aber zu dem „Windelfrei ist keine Sauberkeitserziehung“ möchte ich mal anmerken, man kann es damit auch übertreiben. Natürlich kann man das Kind nicht zwingen beim Abhalten oder auf dem Tröpfchen zu pullern, oder Kackern. Das brauch sicher Zeit, bis das zuverlässig funktioniert. Aber am Ende ist es ja auch das Ziel, dass das Kind sein Geschäft in die Toilette erledigt (vorher Töpfchen). Denn es handelt sich ja um eine gesellschaftliche Konvention (im Sinne der Vermeidung von Seuchen), dass man sein Geschäft nicht irgendwo im Freien erledigt, oder in jedem x-beliebigen Gefäß, sondern eben an dem dafür vorgesehenen Platz, der Toilette. Denn dieses Bestreben ist nicht angeboren, was man in diversen anderen Kulturen beobachten kann, wo im Zuge der Cholera (und anderer Seuchen)-bekämpfung Latrinen gebaut werden, und versucht wird den Menschen zu erklären, dass es besser ist, diese zu benutzen und nicht jeden x-beliebigen Busch in der Nähe des Hauses.
    Wenn man unter Erziehung Strafandrohung versteht, dann hast Du völlig recht. Aber ich denke Erziehung ist auch vorleben und zu erwünschtem Verhalten ermuntern. Und wenn mein Sohn es lustig findet, irgendwo im Garten oder in die Badewanne zu pullern, werde ich ihn zwar nicht ausschimpfen, aber auch nicht loben, sondern wenn er in sein Tröpfchen, oder die Toilette macht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert