Am vergangenen Mittwochabend sendete Stern TV einen Beitrag zum Thema „Schreibaby“:
Schreibabys – Wie Eltern geholfen werden kann
Wer sich eigentlich für einen bedürfnis- und bindungsorientierten Umgang mit Kindern einsetzt, dem krempeln sich beim Schauen dieses Beitrages die Fußnägel um. Alle – mit denen ich kommuniziert habe – sind von dem „Therapieansatz“ der Schreiambulanz Gelsenkirchen entsetzt und sprachlos.
Ich möchte an dieser Stelle sehr gerne Herbert Renz-Polster, ein bekannter Kinderarzt und Buchautor, zitieren:
Ich weiss keinen Rat, Sie glauben nicht, wie viel ich zu dem Video gefragt wurde. Es ist grausam – kein Wort über Beziehungen, kein Wort über die dyadische oder triadische Regulation, kein Wort über mögliche Belastungen bei den Eltern, kein Hinweis, dass einem solchen Baby das Tragen gut getan hätte, kein Wort über die Nebenwirkungen des Schreienlassens, keine Frage, ob bei der Mutter vielleicht eine Wochenbett-Depression vorlag, keine Information darüber, warum es wohl mit dem Stillen nicht geklappt hat… – dafür ein Baby mit einem offensichtlich plattgelegnen Hinterkopf, Eltern, die ihr Baby wacker im Wagen schieben und die sich hilflos und kleinlaut auf diese grausame Rechtfertigung „Ich weiss ja, dass ihm nichts fehlt.“ festnageln lassen. Und zwar von einer Sozialarbeiterin, die vielleicht im Omo-Paket eine Lizenz zur Therapie gefunden hat? Und die statt von Beziehungen von Schreien als erlerntem Verhalten redet, das es wegzukonditionieren gilt. Erlernt – weil das so viel Spass macht zu brüllen??? Da stehen echt Geister wieder auf, die die Psychologie der letzten 40 Jahre eigentlich überwunden hat. Aber immerhin hat unsere Therapeutin in ihrer Wundertüte jetzt noch weitere geniale Tipps wie: beim Füttern nicht den Fernseher laufen zu lassen! Was wohl der kleine Mensch später einmal dazu sagen wird, wenn er sich das anschauen muss.
Ich glaube, so fühlten sich beim Anblick dieses Würmchens die meisten von uns.
Anzumerken ist, dass der Filmbeitrag von Stern TV aus der Konserve kommt: Monatelange Qual – Familie mit „Schreikind“ fand Hilfe in Gelsenkirchen. Der kleine Darian müsste heute schon in etwa 3 Jahre alt sein.
Mit dem Wissen der Vorgeschichte der Familie ist es fragwürdig zu sagen, dass dieses Baby nichts hatte. Ein traumatische Geburt – hier ein Notkaiserschnitt – ist oftmals ein Auslöser für eine „Schreikarriere“.
Renz-Polster sagt, dass es wichtig für hilfesuchende Eltern ist, genau nach den Konzepten der Schreibabyambulanzen zu schauen, bevor sie sich dort beraten lassen, da die Ansätze sich je nach Kinder- und Beziehungsbild der Experten vor Ort stark variieren.
Hier einmal eine einfache Gegenüberstellung in kleinen Auszügen von zwei Ambulanzen:
SchreiBabyAmbulanz der Berliner Nachbarschaftsheime | Schreiambulanz der Kinder und Jugendklinik Gelsenkirchen |
Sanfte, körperorientierte Methoden für Eltern und ihre Kinder, die helfen die psychischen und körperlichen Spannungszustände zu begreifen, eigene Kräfte und Ressourcen zu entdecken um so Konfliktsituationen zu lösen Körperpsychotherapie, Berührungen, Massagen, Unterstützung und Halt, nicht Therapie, Ressourcenorientierung, soziale Ressourcen aufzeigen |
Tages- und Nachtprotokoll ist die Basis der Analyse Therapie der „gestörten Eltern-Kind-Kommunikation“ Schaffung von festen Strukturen und klaren Regeln sowie Regelmäßigkeiten, wann Schreikinder schlafen sollten |
Also Hand aufs Herz und Bauchgefühl bei der Entscheidung anschalten, wo man sich besser mit seiner Familie aufgehoben fühlt.
Was kann das Umfeld einer Schreibaby-Familie tun? Eltern keine Vorwürfe machen und nicht im Umgang mit ihren Baby bevormunden, sondern Verständnis für die schwierige Zeit zeigen und konkrete Unterstützung anbieten.
Auf den Ansturm der Empörung, den Stern TV ereilt hat, hat die Redaktion mit einer mauen Stellungsnahme reagiert: Schreibabys helfen Ruhe und Struktur. Darin findet sich keine Spur von Einsicht, dass ein an die Bedürfnisse des Kindes angepasstes Vorgehen so wichtig ist. Stattdessen wird hier abermals von „missverstandenen Signalen“ zwischen den Babys und ihren Eltern gesprochen.
Mein persönliches Fazit zu diesem aufwühlenden Stern TV-Beitrag im scheinbar sonst medialen Sommerloch: Uns stehen heute so geniale Köpfe und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verfügung, doch Stern TV berichtete einseitig, recherchierte schlecht und befragte eine Sozialarbeiterin. Hier hätte ich mir eine ausgiebige Recherche und eine interdiszipline Expertenrunde mit zum Beispiel Prof. Mechthild Papousek (Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Entwicklungspsychologin, Eltern-Säuglings-Therapeutin), Prof. Gerald Hüther und Prof. Ralph Dawirs (Hirnforscher), Dr. Herbert Renz-Polster sowie Anja Gaca (Hebamme und ausgebildete Schreibabytherapeutin) gewünscht.
Wir alle hoffen, dass die Stern TV-Redaktion sich bemühen wird, sich in dieses doch viel weitreichendere Themenkomplex einzuarbeiten und eine fundierte Gegendarstellung in nicht allzu ferner Zeit zu senden.
Hier sind noch einige interessante Artikel anderer Blogs rund um das Thema Schreien lassen:
Gebärmutterheimweh – Von guten Eltern
Was hilft gegen Schlaflernprogramme – Nora Imlau
Wenn Babys schreien gelassen werden was passiert in Babys Körper? – Geborgen wachsen
Schlaflernprogramme: Ein Blick hinter die Schreikulisse – Nestling
Lies auch hier: Schreibaby?! – ein Blogeintrag aus dem vergangenen Jahr.