Wir kennen unsere Kinder. Wir wissen, wie sie ticken. Wir kennen ihre Streiche, ihre Blicke, ihre „Unarten“. Wir müssen gar nicht mehr fragen. Oder?
Ich erlebe immer wieder Situationen, in denen Kinder offensichtlich etwas ganz anders tun wollten, sagen wollten oder getan haben als die Eltern dachten. Weil auch Eltern Menschen sind. Und wenn die große Schwester dem kleinen Bruder schon 100 Mal das Auto entrissen hat, dann erwarten wir, dass es auch diesmal der Grund sein wird, wenn er weint und sie ein Auto in der Hand hat. Oder wir hören etwas, das das Kind gar nicht gesagt hat. Oder wir hören nicht, was das Kind eigentlich gerade sagen wollte.
Daher mein Mantra – besonders mit den Kindern, aber auch gegenüber Erwachsenen – : Frage erst!
„Oh, das ist kaputt. Was wolltest Du machen?“
„Oh, XY weint. Braucht ihr Hilfe?“
„Wie bitte? Was hast Du gesagt? Ich habe dich leider gerade nicht verstanden.“
„Worum geht es gerade?“
Die eine Sekunde, die ich brauche, um von einer Sofort-Reaktion auf „Frage erst!“ umzuschalten, hat mich gefühlte 300 Jahre inneres Training gekostet. Aber sie lohnt sich.
Frage erst! Hat sich hundertfach bewährt. So oft höre ich – hören andere, die es auch tun – Unerwartetes, Erfreuliches, Friedliches. Und es gibt dem anderen das Gefühl, das er wirklich auf Interesse stösst und nicht auf vorgefertigte Verhaltensschablonen à la „Ich habe Dir hundertmal gesagtdassdudnicht….sollst!!!“.
Frage erst! ist bei uns oft der Anfang einer sinnvollen, konstruktiven und respektvollen Problemlösung.
Funktioniert übrigens auch mit meiner Zweijährigen: „Oh, Du rennst mit der Schere herum. Was willst Du machen?“ „Will Buch schneiden.“ „Hm, ich will nicht, dass Du Bücher zerschneidest. Schau, ich habe hier buntes Papier, wie wäre es damit?“ „Oh, danke Mama! Ja, will Papier schneiden!!“ (sie sagt wirklich: „oh daaaaanke, Maaama“ – umwerfend). Papier gebracht, Buch gerettet, freundliches Betriebsklima :).
Ja, das haben wir uns auch angewöhnt (zumindest ich, der Papa tut sich noch schwer damit)und es ist wirklich für alle Beteiligten deutlich entspannter als gleich los zu meckern, zumal das Meckern auch nicht immer gerechtfertigt ist. Und sinnvoll schon gar nicht.
Auch in anderen Situationen hilft es übrigens, vorher zu fragen. Zum Beispiel bei Wutanfällen. Da hock ich mich neben das auf dem Boden liegende und mit Fäusten trommelnde Kind und frage einfach, was er jetzt eigentlich machen wollte. Meist hilfts und wir reden einfach. Eine gerechte, friedliche Lösung…
Und nach einigen Jahren tat es mir so gut, von dem „Frage erst!“-Mantra auch mal wieder etwas Abstand zu nehmen. Denn es gibt immer wieder Zeiten, wo sowohl mein Kind also auch ich davon überfordert sind – und das Ideal der Gewaltfreiheit sich an der Realität zerreibt.
Aber das kann man/frau zum Glück schon erspüren – wann es gut sein kann, die Handlung, Führung (und natürlich auch die Verantwortung dafür) zu übernehmen. Genauso dankbar, wie ich meinem Partner bin, wenn er an „one of these days“ einfach weiß, was gut für mich ist, meine Hand nimmt und etwas für mich tut – weil er mich liebt und versteht, gerade dann, wenn ich selbst nicht mehr weiß, was ich will.
Sozusagen mein Freitags-Mantra, wenn ich Eltern beobachte, deren Verbalkommunikation mit ihren Kindern ins Asymetrische abgleitet: Viele Fragen und zunehmende Verwirrung beim Antworten.