Artgerecht Camps: Nähe statt Nutella

„Was macht ihr denn da in den Artgerecht Camps?“ Wir machen Programm. Aber was wir wirklich machen, was wirklich passiert, ist schwer zu beschreiben. Ich will für alle, die noch nicht dabei waren, in ein paar Postings eine Antwort versuchen, die den Camps gerecht wird

Wir machen natürlich neben unseren Attachment-Parenting-Seminaren viel Wildnis-Sachen (Feuer, Drillbogenfeuer, Schüsseln brennen, Wahrnehmung etc.), aber es ergeben sich auch einfach durch das Setting Dinge, die man in kein Programm schreiben kann.

Der Punkt, den ich heute aufgreifen will, betrifft Nutella.

Ich bin ja bekennender Nutella-Fan. Und auch sonst gibt es Dinge, die zu meinem Alltag gehören:

Zu Hause „brauche“ ich manchmal einfach einen Kaffee, „um über den Tag zu kommen„.
Ich „brauche“ einen warmen Kakao, „um erstmal runterzukommen„.
Ich „brauche“ jetzt dringend was Süßes, „um das Essen abzuschließen„.
Ich „brauche“ jetzt erstmal einen Löffel Nutella, so „für mich„.

Aber komisch: In den Camps hatte ich keinerlei Verlangen nach Kakao, Kaffee, weißem Zucker, Vanille etc.

Als mir das im Camp nach ein paar Tagen auffiel, war ich wie vor den Kopf geschlagen. So kannte ich mich gar nicht. Was war los?
Bastian lachte nur auf meine Frage und sagte so etwas wie: „Du musst hier offensichtlich nichts kompensieren.“
„Kompenwas??“ Ich verstand zuerst überhaupt nichts.

Als ich zurück zu Hause war, ließ mich der Gedanke nicht los. Ich achtete also einfach mal bewusst darauf, wann das Verlangen zurückkam. Ich griff nicht ein, sondern beobachtete nur. Und sieh da:

Ich wollte immer dann eine meiner „Drogen“ (Kakao, Kaffee, Zucker, Wärme, Schlaf), wenn es mir irgendwie nicht gut ging. Wenn ich mich irgendwie nicht so gut und selig fühlte, wie im Camp.

Aber was genau hieß „nicht gut“? Ich musste genauer hinschauen. Da zeigte sich: „Nicht gut“ heißt bei mir vor allem: alleine. Alleine ohne Clan, ohne die Wärme eines Teams, ohne die Nähe von lebendigen Wesen, seien es vertraute Menschen, Tiere oder Bäume.

„Nicht gut“ hieß im Alltag oft: Alleine mit den Kindern, müde, ausgelaugt, eigentlich in dem Bedürfnis, woanders zu sein als ich war, etwas anderes zu tun als ich glaubte, tun zu müssen. „Nicht gut“ hieß oft: Funktionieren müssen (Essen kochen) obwohl ich gerade in meiner Seele nach etwas anderem lechzte (alleine sein, Ratschen, Kuscheln, Austausch, Wachstum).

Und immer dann, wenn der Druck zu groß wurde und ich ihm nicht ausweichen konnte, blieb mir nichts anderes, als ihn abzumildern. Ich machte eine Ausgleichbewegung. Ich kompensierte!

Nutella statt Nähe. Zucker statt Zufriedenheit. Wärmflasche statt Wohlgefühl.

Kompensation. Klar, das war es. Das war im Camp nicht nötig gewesen.

Im Camp war ich in der Natur, den natürlichen Rhythmen angepasst. Dort hatte ich meinen Mikro-Clan, zusammengesetzt aus meinem Team, meinen Kindern und meinen Eltern. Und ich hatte einen Groß-Clan – ihr alle, die ihr dabei wart. Wir hatten ein gemeinsames Ziel. Es gab immer eine konkrete, sichtbare, sinnvolle Aufgabe. Und Hilfe und menschliche Wärme war für jeden von uns nur ein Tipi weit entfernt.

All das, was mir in der Stadtwohnung meine „Drogen“ geben, gaben wir dort einander: Wärme, Vertrauen, Musik, Austausch, Wachstum, Lachen, Spielen, Loslassen, Müde sein dürfen, jemanden fragen: Wie geht es Dir? und selbst sagen, wie es mir geht.

Dort störten keine Autos, kein Lärm, kein Gestank mein Wohlgefühl. Dort musste ich nach einem stressigen Einkauf mit zwei Kindern nicht „runterkommen“, sondern war nach dem Kräutersammeln vergnügt und ausgeglichen. Dort musste ich für Seminare nicht quer durch die laute, volle Stadt fahren, sondern nur zur zentralen Feuerstelle laufen.

Und daher musste ich auch nichts kompensieren.

Nähe statt Nutella.

Seitdem sehe ich viel klarer – bei mir und bei anderen.

Ich sehe, wie Menschen in bestimmten Settings völlig ohne ihre „Drogen“ auskommen. Ich sehe, wie Menschen in anderen Settings den inneren Druck nicht mehr aushalten und kompensieren müssen.

Und jetzt aufpassen – nicht in unseren „selbst schuld“-Reflex verfallen. Es hilft aus meiner Sicht überhaupt NICHTS, sich jetzt bei einer Kompensation zu ertappen und kein Nutella mehr zu kaufen. Das erhöht den Druck nur zusätzlich. Meine Strategie ist anders: Ich will mich nicht kasteien und weniger Nutella kaufen (das Böse in mir bekämpfen), sondern dafür sorgen, dass wir einander mehr Wärme geben, mehr Hilfe, mehr sinnvolle Aufgaben, weniger Stadtstress. Und dann kaufe ich automatisch weniger Nutella (Loslassen).

Ich betrachte mein Bedürfnis nach Zucker etc. als Hinweisschild, das mir sagt, dass ich gerade nicht artgerecht gehalten bin. Dass ich an der Situation etwas ändern muss oder zumindest wahrnehmen sollte, dass mich der Einkauf mit den zwei Kindern nach einem Spielplatznachmittag so ausgelaugt hat, dass das jetzt anstehende Abendessen mich eigentlich überfordert und ich deshalb ohne ein Stück Schokolade nicht weiter „funktionieren“ kann.

Und dann esse ich die Schokolade und schwöre mir, dass ich morgen entweder dafür sorge, dass jemand anders einkauft, schon Essen vorgekocht ist oder ich endlich mit meinem Clan zusammenziehe.

Nähe statt Nutella. Artgerecht rockt.

0 Gedanken zu „Artgerecht Camps: Nähe statt Nutella

  1. … danke gleichfalls … noch viel, viel Arbeit. Ich habe überhaupt keine Zeit zu überlegen, wie ich mich fühle, es ist schon ganz schön stressig mit zwei so kleinen Kindern. Meine eigenen Bedürfnisse sind leider ganz weit hinten angestellt und ich freue mich auf einen Kaffee am Morgen, ein Stück Schokolade nach dem Mittagessen usw. Wirklich eine Kompensation für sämtliche Dinge, die Du so schön aufgeführt hast, da mangelt es mir gerade an allen Stellen. Der Moment, wo man irgendeine der „Drogen“ kompensiert ist wie eine Umarmung, die fehlt oder die Frage, ob ich denn klarkomme, die leider nicht kommt. Leider habe ich in absehbarer Zeit keine Idee, irgendwas zu verändern, aber der Denkanstoß ist sehr schön, danke dir.

  2. oh jaaa. genau diese erkenntnis hatte ich im juli, zwar aufgrund eines buches, aber das hat vieles verändert. was ich schlimm finde ist, dass der anteil, der sich fühlt, als lebte er artgerecht, nur gefühlte 10 prozent ausmacht. die restlichen rahmenbedingungen sorgen dafür, dass ich ständig kompensieren müsste, ich schreibe dann einfach drüber und dann brauch ich keine „drogen“. funktioniert auch gut. es wird, es wird!

  3. Toll formuliert, Nicola!

    Bezüglich der Kompensation im Stadtalltag schreibst Du mir aus der Seele! Vielen Dank für Dein Aufzeigen der Zusammenhänge! Ich verstehe mich gleich viel besser!

    Mir hat das Camp auch sehr, sehr gut getan!

    Natur pur!

    Das brauche ich häufiger!

  4. Ich lese diesen Artikel, nachdem ich heut schon eine Tafel Schokolade, zwei Handvoll Erdnußflips und noch so einiges mehr „gebraucht“ habe…

    ohh ja. es läuft einiges falsch hier.

    Vielen Dank für diesen guten Denkanstoß!

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